Gnade deiner Seele: Psychothriller (German Edition)
seines Wissens nach. Jones fragte sich, warum Henry stets für Frauen schwärmte, die unerreichbar waren. Vielleicht hatte er nur Pech gehabt.
»Kannst du dich an noch mehr erinnern?«, fragte Jones.
Henry ging weiter und vergrub die Hände in den Hosentaschen.
»Sie war der traurigste Mensch, den ich je kennengelernt hatte. Sie wirkte sehr einsam. Von Natur aus einsam, so als könnte keine Liebe und Aufmerksamkeit der Welt das ausgleichen. Verstehst du das?«
Bei diesen Worten musste Jones an Abigail denken. Abigail Cooper, seine Mutter, war ein schwarzes Loch der Bedürftigkeit gewesen, ein Fass ohne Boden. Sein Leben lang hatte er sich um sie bemüht, bis zu ihrem Tod.
»Ja, das verstehe ich.«
»Jones, ich weiß nicht, was mit Marla Holt passiert ist.«
Inzwischen hatten sie eine Lichtung erreicht. Die Einheimischen nannten diesen Ort »Die Kapelle«. Am hinteren Ende der Lichtung stand eine riesige, verfallene Scheune. Die Jugendlichen trafen sich hier. Auf den Namen waren die Leute gekommen, weil das Sonnenlicht durch die Löcher im Dach mit langen, goldenen Fingern nach der Finsternis griff und das Scheunendach mit einem Fresko aus Graffiti bedeckt war. Das Gebäude sah einsturzgefährdet aus, aber es gab niemanden in The Hollows, der nicht mindestens ein Mal dort gewesen war. Parties, Knutschorgien, einmal hatte die Polizei hier sogar einen illegalen Rave aufgelöst. Selbst aus der Distanz konnte Jones sehen, dass der Scheunenboden mit leeren Flaschen und Dosen übersät war.
Zwischen den Grasbüscheln funkelten Patronenhülsen wie Goldmünzen. In The Hollows wurde gern geschossen; die Leute kamen her, um wahllos herumzuballern oder ihre Kinder auf Flaschen zielen zu lassen. Inzwischen kam es zu Spannungen zwischen den alteingesessenen Familien und jenen Neureichen, die erst in den letzten zehn Jahren zugezogen waren.
»Was willst du hier draußen, Jones?«
Henry betrat die Lichtung und kniete sich hin, um eine Patronenhülse aufzulesen und in den Lichtkegel von Jones’ Taschenlampe zu halten.
»Ich frage mich, was Michael Holt hier gesucht hat«, antwortete Jones.
»Er ist Höhlenforscher und bietet geführte Rundgänge an, hier und in der Nachbarschaft. Ich glaube, er arbeitet gerade an einem Buch.«
Das war Jones neu.
»Wirklich? Hast du je von der Mine gehört, in der angeblich eine Leiche liegt?«
Henry schüttelte den Kopf.
»Nein.«
»Ich auch nicht«, sagte Jones. Er wusste viel über The Hollows, kannte die Vergangenheit und Gegenwart der Stadt besser als die meisten. »Wir wohnen beide schon lange hier. Wir hätten von dieser Geschichte längst gehört haben müssen.«
»Ich könnte das recherchieren«, bot Henry an.
Jones musterte ihn nachdenklich.
»Das wäre toll, falls du die Zeit dafür hast.«
»Gern«, sagte Henry. »Wie du weißt, ist die Heimatkunde mein Steckenpferd.«
Der arme Henry, dachte Jones. Er sah nicht übel aus, aber er war immer noch derselbe Streber wie damals in der Schule.
»Irgendjemand sollte hier mal aufräumen«, fügte Henry zusammenhanglos hinzu. Er trat gegen eine leere Wodkaflasche. Das Etikett war fast abgerissen, trotzdem konnte er sehen, dass die Flasche aus der Old Mill Bar stammte, die über eine eigene Schnapsbrennerei verfügte. Das Gesöff schmeckte furchtbar und bescherte dem Konsumenten, der nicht daran gewöhnt war, Kopfschmerzen und Magenkrämpfe. Als Jugendliche hatten sie es alle getrunken. Nur in der Old Mill Bar hatte man ihnen Alkohol verkauft. Der Besitzer war dafür bekannt gewesen, selbst stümperhaft gefälschte Schülerausweise zu akzeptieren.
»Das Grundstück ist in Privatbesitz«, sagte Jones. »Die Groves entrichten immer noch die Grundsteuer dafür, so wie für die alte O’Donnell-Farm, die zwei Kilometer nördlich von hier liegt. Dort sieht es ebenso heruntergekommen aus wie hier.«
Sie verließen die Lichtung und liefen nach Westen. Das Mädchen konnte sich nicht erinnern, wo Michael Holt gegraben hatte, es hatte die Stelle nicht wiedergefunden. Aber Jones meinte zu wissen, dass nicht weit entfernt von hier eine zweite Lichtung lag.
»Wenn wir nichts mehr zu besprechen haben, würde ich gern umkehren«, sagte Henry.
Jones wünschte, er könnte das Gefühl abschütteln. Es hatte ihn vor Jahren schon einmal beschlichen, als sie zum ersten Mal über Marla gesprochen hatten. Henry Ivy sagte nicht die ganze Wahrheit. Er hatte damals im Laufe von drei Tagen fünf Mal bei den Holts angerufen. Ungewöhnlich oft für
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