Gnade deiner Seele: Psychothriller (German Edition)
Satzstücke, aber er verstand auch so. Der Tonfall reichte ihm; sie war sauer.
»Nein«, sagte er, »ich musste ihn auf nächste Woche verschieben.« Das war gelogen. Er hatte nichts verschoben. Würde er noch. Vielleicht. Maggie quittierte seine Antwort mit eisigem Schweigen.
»Der Empfang ist schlecht«, sagte er, »lass uns später reden.«
Immer noch Schweigen.
»Maggie, bist du noch da?«
Die Verbindung war abgerissen. Jones wusste nicht, ob sie getrennt worden waren oder ob Maggie aufgelegt hatte. Mittlerweile hatte er keinen Empfang mehr und konnte sie nicht zurückrufen. Auf einmal wurde er wütend, weil sie sich über ihn ärgerte. Es ging sie nichts an, ob er zur Therapie ging oder nicht, oder? Sie konnte ihn nicht ständig kontrollieren. Er war ein Mann, kein Kind, er war nicht Ricky. Er würde selbst entscheiden, ob er den Seelenklempner in Zukunft noch aufsuchen würde.
Inzwischen war es dunkel geworden. Jones steckte das Handy wieder ein. Er ging mit eiligen Schritten zum Auto zurück, ohne sich noch einmal umzudrehen.
ACHTZEHN
E s war ja nicht so, als stecke sie in der Haut der anderen. Sie fühlte nicht unbedingt, was die anderen fühlten. Aber ihre Empathie für die anderen und ihre jeweiligen Notlagen war so groß, dass sie den Kummer und die Angst miterlebte. Adrenalinstöße ließen ihr Herz schneller schlagen. Sie konnte keine Gedanken lesen und sah nicht durch fremde Augen; sie war immer nur Zuschauerin. Dabei war sie weder allwissend noch allgegenwärtig. Eloise hatte immer den Eindruck gehabt, eine eigenartige, unerklärliche Perspektive einzunehmen, auch wenn sie das nicht beschreiben oder begründen konnte. Manchmal sah sie nur einen Teil des Geschehens, manchmal war sie mittendrin. Oh, und es war zum Haareraufen, denn die Perspektive wechselte ständig. Eloise hatte keine Kontrolle darüber. Sie wurde zur Zeugin eines perversen Spektakels. Sie wurde zum Zuschauen gezwungen, ohne sich den Standpunkt auswählen zu können.
Im Falle der vermeintlichen Marla Holt (manchmal entpuppte sich die Frau in Eloises Träumen als eine andere) nahm sie Geräusche und verschwommene, verkleinerte Bilder wahr. Eloise hörte jemanden keuchen, sah eine Frau durchs Gebüsch fliehen. Der Nachthimmel war mit Sternen übersät, die man durch die nackten Äste der hohen Bäume erkennen konnte. In der Ferne konnte sie Männerstimmen hören. Eloise verstand kein Wort, konnte aber die Panik und die Wut nachfühlen, die in den Stimmen mitschwang.
Auf einmal brach die Frau aus dem Unterholz und stand auf einer Lichtung. Vor ihr erhob sich ein großes, schiefes Gebäude. Die Frau torkelte vorwärts und blieb schließlich stehen, als habe sie keine Kraft mehr. Sie griff sich keuchend in die Seite. Zuletzt warf sie einen verängstigten Blick über die Schulter und humpelte in den gähnenden, schwarzen Eingang des Gebäudes. Handelte es sich um eine alte Scheune, eine Schule oder eine verfallene Kirche? Eloise wusste es nicht.
Dann sah sie zwei Männer. Auf der Lichtung kam es zum Kampf, einer ging zu Boden und blieb liegen. Der andere betrat das Gebäude. Dann war da nur die Nacht, die urplötzlich von einem Schrei zerrissen wurde, und dann war es wieder still. Die Vision endete, und Eloise hatte das Gefühl, aus einem Traum zu erwachen.
Sie musste sich beeilen, alles schnell zu erzählen oder aufzuschreiben, weil die Einzelheiten schnell verblassten. Die Bildränder schienen sich aufzurollen, bis die Erinnerung sich erhob und davonschwebte wie brennendes Pergamentpapier. Jedes Mal blieb nichts zurück als Angst und Trauer, Schmerz und Einsamkeit. Jedes Mal ein bisschen mehr, bis Eloise nach all den Jahren platzen wollte. Inzwischen machten diese Gefühle ihre Persönlichkeit aus. Sie war eine Bergarbeiterin, die in Abgründe hinunterstieg und nach jedem Ausflug schwärzer wurde. Die Schwärze kleidete ihre Lunge aus, legte sich auf ihr Herz und die anderen Organe, wie um sie von innen zu ersticken. Dagegen würde kein Medikament der Welt etwas ausrichten können.
»Das Haus der Holts steht am Waldrand«, sagte Ray, als Eloise ihm alles geschildert hatte.
»Ja«, sagte sie. Sie erinnerte sich daran, weil sie damals auf Michael und Cara aufgepasst hatte. Die Makler warben damit, dass die Grundstücke in jener Straße an den Wald grenzten, aber die Einwohner von The Hollows waren abergläubisch. Da draußen trug sich Fürchterliches zu, das wussten alle. Natürlich wusste Eloise besser als die meisten, dass
Weitere Kostenlose Bücher