Gnade deiner Seele: Psychothriller (German Edition)
Eigenleben, alles wurde immer komplizierter und unberechenbarer. Anfangs fühlte Willow sich stark und mächtig, als sie die Geschichte von dem Konzert und dem Jungen erfand, den sie dort angeblich getroffen hatte. Dann fühlte sie sich immer schlechter dabei. Trotzdem musste sie immer weiterlügen, selbst als sie nicht mehr lügen wollte. Die Lüge schwoll zu einem Monster an, das an Willows Leben nagte. Als Willow dann ausriss, wollte sie nie mehr zurückkommen.
»Die Schule, diese Stadt, die hohen Erwartungen«, seufzte Willow, als die Therapeutin nichts mehr sagte. »Ich wünschte, ich würde für eine Weile nicht unter Beobachtung stehen.«
Alle hatten ihn kennenlernen wollen, sie fragten täglich nach ihm. Nach diesem Jungen, Willows erfundenem Freund. Sie hatte eine komplette Geschichte zurechtgesponnen: Er ging auf die Regis. Seine Mutter war gestorben, als er noch ein Baby war (wie traurig!). Sein Dad war ein Workaholic (das kannten sie alle). Er hatte seinen kleinen Cousin zum Britney-Spears-Konzert begleitet (wie süß!). Er hieß Rainer, so wie der Dichter (wie cool!). Sie kaufte Geschenke, die er ihr angeblich gemacht hatte – einen hübschen Ring, einen Plüschteddy. Sie richtete eine falsche Mailadresse ein und schickte sich Nachrichten, die sie ihren Freundinnen präsentierte. Einmal hatte sie sogar Krach mit Rainer.
Aber irgendwann wurde ihr alles zu viel. Sie spielte mit dem Gedanken, auf dramatische Art Schluss zu machen. Vielleicht käme eine andere ins Spiel? Oder vielleicht entdeckte sie, dass er Drogen nahm? Damit konnte ich nicht umgehen, könnte sie sagen. Alle würden von Herzen zustimmen. Und dann könnte sie endlich wieder Willow sein. Aber es ging nicht. Sie sträubte sich. Wer war sie schon ohne den fiktiven Rainer? Sie wusste es selbst nicht mehr. Sie war jedoch clever genug, um zu durchschauen, wie jämmerlich dieses Spiel war. Sie hatte ihn erfunden, er existierte nicht. Und doch war sie von ihm abhängig.
Unter normalen Umständen hätte sie sich ihrer Mutter anvertraut. Wenn ihr Vater – Richard – nicht ausgezogen wäre. Aber ihre Mutter ging auf dem Zahnfleisch. Nachts, wenn sie glaubte, dass Willow schlief, weinte sie sich die Augen aus. Ich habe unser Leben zerstört, hörte Willow sie einmal am Telefon sagen. Was sollte das heißen? Willow verstand nicht.
Dann eines Tages stellte sich das düstere Gefühl ein, und Willow kamen ganz neue Gedanken. Am Ende wäre ihre Mutter ohne sie besser dran? Wenn Bethany und Richard nicht wegen des verpassten Konzertes gestritten hätten, wären sie bestimmt noch verheiratet. Und wenn ihre Freundinnen erfuhren, dass Rainer nicht echt war, würde sie keine Freundinnen mehr haben. Alle würden sie hassen.
An jenem Abend, als sie ihrer Mutter sagte, sie werde bei Zoe übernachten, und als sie Zoe sagte, sie sei bei Rainer, wusste sie nicht, wohin. Sie wollte nur ihre Ruhe haben, wie sie es Dr. Cooper gesagt hatte. Sie wollte aus ihrer Haut, wollte ein anderes Mädchen an einem anderen Ort sein.
Und dazu wurde sie schließlich. Sobald sie die Lobby ihres Apartmenthauses verlassen hatte und um die Straßenecke gebogen war, wusste zum ersten Mal in ihrem Leben niemand, wo sie war und was sie tat. Sie war weder bei ihren Eltern noch in der Schule, sie wurde von keiner Freundin begleitet und von keinem Babysitter betreut. Sie war frei. Sie konnte in den nächsten Bus oder in die U-Bahn steigen. Sie konnte fahren, wohin sie wollte. Das Ganze stellte sich jedoch als weniger aufregend als gedacht heraus. Kaum hatte sie die ersten zehn Blocks hinter sich gelassen, als sie sich einsam und ängstlich fühlte.
Auf einmal kam ihr die sonst so vertraute Stadt lärmend und einschüchternd vor. Fremde Männer glotzten, Autofahrer hupten. Die hundert Dollar, die sie eingesteckt hatte, kamen ihr lächerlich wenig vor. Die Gebäude wirkten höher und schroffer als sonst, und Willow fühlte sich klein. Sie lief von der grünen, luftigen West Side bis zum Ende des Broadway, mitten durch die chaotische Midtown und das stille Village. Irgendwann fand sie sich in Chinatown wieder, wo Kühltruhen voller toter Fische auf dem Gehsteig standen, sich die gerösteten Enten im Schaufenster drehten, wo Buddhastatuen auf den Tischen standen und gläserne Lotosblüten im Kunstlicht schimmerten. In SoHo hätten die hundert Dollar in ihrer Tasche nicht einmal für eine Sonnenbrille gereicht.
Vermutlich war sie keine acht Kilometer von zu Hause entfernt, aber es fühlte
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