Gnade deiner Seele: Psychothriller (German Edition)
besser auf dich aufpassen kann.«
Willow schnaubte verächtlich.
»Damit sie mich besser kontrollieren kann! Überall muss sie mich mit dem Auto hinfahren.«
Die Therapeutin zuckte die Achseln.
»Eltern und Kinder schätzen den Unterschied zwischen Schutz und Kontrolle oft anders ein.«
Willow ließ sich zurücksinken und dachte an Jolie und Cole, die tun und lassen konnten, was sie wollten. Was wusste sie über Freiheit? Die Welt war unendlich kompliziert. Wie sollte man sich über irgendetwas im Klaren sein? Wie sollte man wissen, was richtig war? Wer sagte einem, was man brauchte, um glücklich zu sein?
»Ich hasse das Leben hier«, sagte Willow. »The Hollows ist das Letzte.«
Bei diesem Satz rastete Bethany regelmäßig aus, aber Dr. Cooper lächelte nur geduldig.
»Wo immer du hingehst, da bist auch du«, sagte sie.
Willow dachte kurz nach.
»Ich verstehe nicht.«
»Du könntest jetzt in New York City sein. Du könntest in The Hollows sein oder auf dem Mond. Du wirst immer Willow sein. Wenn du an einem Ort glücklich bist, kannst du es überall sein.«
Dr. Cooper lächelte, als habe sie Grund zur Freude. Und plötzlich musste Willow ebenfalls lächeln, obgleich sie nicht wusste, ob sie zustimmen sollte. New York war eine coole Stadt, The Hollows total uncool. Was hatte das mit ihr zu tun?
Sie erzählte Dr. Cooper von Jolie und Cole, von dem Friedhof, von dem ergebnislosen Streifzug durch den Wald, davon, dass Jolie sie für eine Lügnerin hielt und dass sie lebenslangen Hausarrest hatte.
»Weißt du, ich kann das, was du getan hast, nicht gutheißen. Aber ich finde, dass du große Fortschritte machst. Du hast den Impuls zu lügen verspürt, aber du hattest dich im Griff«, sagte Dr. Cooper, als Willow fertig war. »Du kannst stolz auf dich sein.«
Dr. Cooper wusste, dass die Lügerei schon lange vor Rainer begonnen hatte. Jahrelang hatte Willow ihre Eltern und ihre Freundinnen belogen, und immer war es um unwichtige Kleinigkeiten gegangen. Dass ihr in der U-Bahn ein süßer Junge zugezwinkert habe, dass sie in der Nacht von wiederkehrenden Albträumen geplagt werde. Einmal behauptete sie, in der Bahn um ein Haar ausgeraubt worden zu sein; drei Schlägertypen hätten ihr den Rucksack wegnehmen wollen. Sie wusste selbst nicht, warum sie log. Sie mochte die Spannung, die aufregenden Erlebnisse, die durch die Details noch realer wirkten. Sie mochte die Reaktionen der anderen. Im Grunde tat sie das Gleiche wie ihre Mutter, nicht wahr? Ja, Willow, klar, hatte Bethany dazu gesagt, der Unterschied ist nur, dass ich nie versucht habe, meine Fiktion als Wahrheit zu verkaufen. Wenn du Märchen erzählen willst, dann schreib ein Märchenbuch.
Während einer der ersten Sitzungen hatte Dr. Cooper gesagt: »Es ist, als erfändest du eine zweite Willow. Eine Willow, die bei den Jungs beliebt ist und die einem Überfall entkommt. Eine Kunstfigur. Dabei finde ich die echte Willow ziemlich cool – intelligent, einfallsreich, liebenswert. Vielleicht solltest du einmal versuchen, sie kennenzulernen?«
»Ja«, hatte Willow geantwortet, »mag sein.«
Sagten nicht alle dasselbe? Sei du selbst! Gib dein Bestes! Das konnte unmöglich für alle stimmen, denn nicht jeder Mensch war lieb und nett, begabt, hübsch, intelligent. Manchmal reichte es nicht, obwohl man sein Bestes gab. Und dann? Musste man sich in dem Fall mit sich selbst, also mit wenig, begnügen?
Sie unterhielten sich über Willows Vorsatz, sich in der Schule mehr Mühe zu geben und den Unterricht nicht mehr zu schwänzen.
»Ruf mich an, sobald du den Impuls verspürst, wegzulaufen«, sagte Dr. Cooper. »Wir können darüber reden.«
Willow willigte ein.
»Aber was sage ich Jolie? Sie ist meine einzige Freundin, und selbst wenn sie glaubt, ich hätte sie angelogen, und mich deswegen nicht hasst, darf ich mich nicht mehr mit ihr treffen.«
In Wahrheit regte Willow sich gar nicht so sehr darüber auf. Wenn sie mit Jolie zusammen war, kam ihr die ganze Welt schräg vor, so als könnte sie jeden Moment abrutschen.
»Sei ehrlich zu ihr. Sag ihr, dass man dir eine Strafe aufgebrummt hat und du mehr für die Schule lernen musst. Wenn sie eine wahre Freundin ist, wird sie Verständnis dafür haben.«
Willow hätte beinahe losgeprustet. Jolie würde definitiv kein Verständnis haben. Hier in dieser warmen, behaglichen Umgebung klang alles so einfach, alle Probleme konnten zur Sprache gebracht und gelöst werden. In diesem Raum gab es keine Unbekannten und
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