Gnade deiner Seele: Psychothriller (German Edition)
sich an wie tausend. Wenn sie jetzt nicht umkehrte, würde sie in dieser Stadt verlorengehen. So war es in New York – man war niemals allein, aber ständig einsam. Man verlief sich in aller Öffentlichkeit.
Aber so traurig und verschreckt, wie sie war, konnte sie sich unmöglich zu Hause blicken lassen. Sie konnte unmöglich ihre Mom oder ihre Freundinnen anrufen, um die Lüge zu beichten. Im Grunde war es kein Weltuntergang. Aber die Lüge offenbarte zu viel von Willows Persönlichkeit, wie erbärmlich und traurig sie war, wie einsam und anormal. Die dunkle Wut wuchs an, bis sie nicht mehr nur ein Teil von ihr war, sondern sie zur Gänze ausfüllte. Irgendwann war sie überzeugt, es sei das Beste, Schluss zu machen.
Nach stundenlangem Herumstreifen fand sie sich im Washington Square Park wieder. Es war schon spät und der Park geschlossen; man konnte ihn durchqueren, durfte sich aber nicht dort aufhalten. Vor dem Spielplatz, auf dem sie früher oft mit Bethany gewesen war, blieb sie stehen, um die Finger durch das Gittertor zu stecken. Willow konnte sich nicht daran erinnern, dass sie hier auf der Schaukel oder der Wippe gesessen hatte und auf dem kleinen Pferdchen geritten war, aber es gab Fotos. Sie wünschte sich, wieder klein zu sein und mit ihrer Mom auf den Spielplatz zu gehen. Was seltsam war, denn normalerweise wollte sie nichts sehnlicher, als endlich erwachsen zu werden, allein zu leben, alles selbst entscheiden zu können.
»Willow?«
Zuerst dachte sie, es sei eine Halluzination. Sie dachte, sie sei endgültig verrückt geworden. Ihre Mutter stand mit rot verweinten Augen vor ihr. Im nächsten Augenblick heulte Willow los und flog in ihre Arme.
»Wie hast du mich gefunden?«, fragte sie und klammerte sich am roten Wollmantel ihrer Mutter fest. Bethany antwortete nicht sofort, sondern schluchzte leise vor sich hin. Sie zog Willow zu einer Bank, und sie setzten sich. Bethany legte ihre Hände an Willows Wangen. Willow konnte sehen, wie traurig und besorgt ihre Mutter war.
»Als du klein warst«, sagte Bethany und wischte sich die Augen, »habe ich dir immer gesagt, du sollst zu diesem Tor kommen, falls wir uns im Park verlieren. Du sollst warten und den ersten Polizisten ansprechen, der vorbeikommt. Ich habe dich die ganze Nacht gesucht. Ich war an allen Orten, wo wir gemeinsam waren. Der Spielplatz ist mir zuletzt in den Sinn gekommen. Mir ist nichts mehr eingefallen.«
Dr. Cooper hatte wissen wollen, ob Willow sich an die Worte ihrer Mutter erinnert, ob ihr Unbewusstes sie zu jenem Spielplatztor geführt hatte. Willow konnte die Frage nicht beantworten.
»Was hast du dir dabei gedacht?«, hatte ihre Mutter gefragt. »Wo wolltest du hin?«
»Ich wollte einfach nur weg«, hatte sie heulend geantwortet; ihre ganze Wut und ihre Trauer bahnten sich einen Weg.
»Weg wovon?«, hatte Bethany gefragt. »Schätzchen, was redest du da?«
Danach ging es drunter und drüber. Willow wurde von ihren Mitschülerinnen geschnitten. Sie suchten eine Reihe von Psychologen auf, aber einer war schlimmer als der andere. Alle hielten Willow für selbstmordgefährdet. Und zum Schluss Bethanys Ankündigung, sie würden New York City verlassen und in eine Kleinstadt namens The Hollows ziehen. Ihre Mutter hatte recht, ihr Leben war ruiniert. Bloß dass es Willows Schuld war, nicht Bethanys.
»Wenn ich nicht so viel verbockt hätte, wären wir nicht einmal hier«, beschwerte sich Willow bei Dr. Cooper.
»Was ist denn so schlimm an The Hollows?«
»Es ist nicht New York City. Meine Mitschüler sind Kretins. Vorstadt-Loser.«
Die Therapeutin lächelte.
»Nein, wir sind nicht in New York City. Ich bin hier aufgewachsen, wusstest du das? Ich weiß noch, wie öde ich es früher fand. Und mit den ›Kretins‹ konnte ich ebenso wenig anfangen wie du.«
Willow wurde neugierig. Unvorstellbar, dass Dr. Cooper als Jugendliche angeeckt haben sollte.
»Was haben Sie getan?«
»Ich habe mich ausgelebt, so gut ich konnte. Ich habe fleißig gelernt, um gute Noten zu bekommen. Und als ich älter war, bin ich nach New York City gegangen. Ich habe lange dort gewohnt.«
»Und dann sind Sie zurückgekommen? Warum?«
»Ich habe mich in meinen Mann verliebt. Er hat hier gearbeitet, außerdem wohnt meine Mutter immer noch in The Hollows. Wir wollten eine Familie gründen, und ein friedliches Familienleben war mir wichtig. Also haben wir uns hier niedergelassen. Deine Mutter ist hergezogen, damit du zur Ruhe kommen kannst. Damit sie
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