Gnade deiner Seele: Psychothriller (German Edition)
Heutzutage wollte jedermann etwas Besonderes sein; es reichte nicht aus, einfach nur über Fachkenntnisse zu verfügen. Vielleicht sah Jones das Ganze zu zynisch, aber wenigstens in diesem Punkt stimmte Maggie ihm zu. Es reichte nicht aus, sich für Bergwerke zu interessieren, einen guten Job zu machen und sein Auskommen zu verdienen. Nein, man musste die Hauptrolle in der eigenen Reality-Show spielen. Missratene Kinder? Heruntergekommene Wohnung? Träumen Sie von einem Leben als Rockstar, als Supermodel, als Walschützer? Irgendjemand wird eine Sendung draus machen, und die Leute werden sie anschauen.
Michael Holt hatte die Webseite seiner Mutter gewidmet: Mom, wir warten immer noch auf deine Heimkehr.
»Hallo?«
Jones hörte ein Hämmern in den Tiefen des Hauses, und obwohl er nicht hineingebeten worden war, trat er ein. Er folgte dem Geräusch durch den Flur, der sich zu einem Tunnel verengt hatte. Jones’ Schultern berührten die Zeitungsstapel rechts und links. Als er in der Mitte des Ganges stand, schlug ihm ein Gestank entgegen, eine ekelhafte Mischung aus verfaulten Lebensmitteln und Urin. Es war, als liefe er gegen eine Betonmauer. Am Ende des Flurs sah er eine geschlossene Tür, durch deren Ritzen Licht drang.
»Hallo?«
Das Hämmern hörte abrupt auf. Auf einmal hatte Jones das Gefühl, in einer Zeitmaschine gereist zu sein. Hier drinnen war es stockfinster. Es war kalt und feucht, und die Luft schien dünner zu werden. Die Tür sprang auf, und eine riesige Gestalt füllte den Rahmen aus. Jones wich einen Schritt zurück.
»Wer ist da?«, fragte die Gestalt.
Jones verschlug es die Sprache. Etwas – womöglich der Staub – verstopfte ihm die Kehle. Er fing an zu husten und konnte nicht mehr aufhören, während die Gestalt sich näherte. Jones drehte sich um, lief zur Haustür und stolperte in die kalte Luft hinaus. Hinter ihm erschien Michael Holt, der ehrlich bestürzt aussah.
»Tut mir leid, ich renoviere gerade die Küche, da wirbele ich eine Menge Staub auf«, sagte Michael. »Möchten Sie einen Schluck Wasser?«
Jones hob eine Hand. Trotz des Hustenanfalls brachte er ein »Danke, geht schon« heraus.
»Interessieren Sie sich für das Haus?«
Jones warf einen kurzen Blick auf das Verkaufsschild, das im Wind schaukelte wie zum traurigen Abschiedsgruß.
»Nein«, sagte er, als er seine Stimme wiedergefunden hatte. »Ich bin Jones Cooper. Ich habe im Jahr 1987 nach dem Verschwinden Ihrer Mutter ermittelt. Im Moment helfe ich den örtlichen Behörden aus und gehe die alten Akten noch einmal durch.«
»Der Fall wird neu aufgerollt?«, fragte Holt. Er wirkte so naiv, so hoffnungsvoll, dass Jones sich für einen Moment schämte. Wofür, wusste er selbst nicht.
»Das weiß ich noch nicht.«
»Ich glaube, ich kann mich an Sie erinnern«, sagte Holt. Seine Augen blitzten genau so wie damals. Jones wusste noch, dass der Junge für sein Alter ungewöhnlich groß gewesen war, aber heute, als Erwachsener, sah er aus wie ein breitschultriger Riese. Holt hatte sich das Haar wachsen lassen. Die Zotteln rahmten sein Gesicht ein. Er hatte einen Schmutzfleck auf der Wange, vermutlich wegen der Abrissarbeiten in der Küche. Er wirkte trotz seiner Körpergröße seltsam jungenhaft. Jungenhaft, aber nicht niedlich.
»Ich hätte da ein paar Fragen.« Jones zwang sich zu einem letzten, kräftigen Husten, um endlich den Hals frei zu bekommen. »Haben Sie Zeit?«
Dabei sah es für Jones so aus, als habe Michael Holt alle Zeit der Welt.
Michael führte ihn durch das Chaos ins Wohnzimmer, eine Insel in einem Meer aus Müll. Er bot Jones ein Getränk an, und als dieser ablehnte, zeigte Holt auf das Sofa und zwängte sich in einen der schmalen Chintzsessel.
»Entschuldigen Sie das Chaos. Ich fürchte, mein Vater war ein Messie.«
Gab es darüber nicht auch eine eigene TV -Show? Über Leute, die nichts wegwerfen konnten und sich unter Müllbergen vergruben? Es war krankhaft, eine seelische Störung oder so ähnlich. Jones hatte Fotos von Holt gesehen, wie er durch Erdtunnel robbte und sich durch enge Felsspalten zwängte. Nun stellte er sich bildhaft vor, wie Holt die Müllhalde erforschte, sich durch die Trümmer wühlte, die der Vater hinterlassen hatte. Mit Schutzhelm, Stirnlampe und Watstiefeln.
»Ich habe mir meine alten Notizen noch einmal angesehen. Als Ihre Mutter verschwand, haben Sie bei einem Freund übernachtet?«, fragte Jones.
»Ja, das stimmt«, antwortete Michael. Jones bemerkte den Schweiß
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