Gnade
uns«, flüsterte sie.
Theo ruderte unbeirrt weiter, spähte jedoch über die Schulter zurück. Das andere Boot war etwa zweihundert Meter weit entfernt. Es bewegte sich nicht, aber der Lichtstrahl schwenkte über die Wasseroberfläche.
»Sie haben uns noch nicht gesehen.«
»Soll ich den Motor anlassen?«
»Nein!«, wehrte er vehement ab. »Bleib auf deinem Posten. Vielleicht schaffen wir es so.«
Eine Minute später wanderte der Lichtkegel auf sie zu. Michelle wartete Theos Befehl nicht ab, sondern zerrte umgehend an der Schnur. Beim ersten Mal sprang der Motor nicht an. Theo warf die Ruder ins Boot und drückte Michelle auf den Boden. Und in dem Moment flog ihm auch schon wieder die erste Kugel um die Ohren. Michelle riss erneut an dem Startseil, und als der Motor stotternd zum Leben erwachte, schrie sie vor Erleichterung auf.
Theo holte den Revolver aus dem Holster und raunte Michelle zu, dass sie sich geduckt halten solle. Ein weiteres Geschoss schlug neben ihnen ins Wasser. Theo stützte die Ellbogen auf die Bank und schoss.
Die Kerle kamen ziemlich schnell näher. Theo zielte auf den Scheinwerfer. Der erste Schuss ging daneben, aber er hörte jemanden stöhnen und hoffte, einen der Männer getroffen zu haben. Er drückte wieder auf den Abzug. Diesmal traf er. Das Glas des Scheinwerfers zersplitterte, und das Licht ging aus. Nach fünf bis zehn Sekunden flammte eine Taschenlampe auf.
Michelle konnte nicht abschätzen, wie nahe sie dem Ufer waren. Sie versuchte, den Motor zu drosseln, aber es war zu spät. Das Boot machte einen Satz aus dem Wasser und landete im dornigen Gestrüpp. Es schlingerte weiter, schlug zweimal auf und kam dicht vor einem Baum zum Stehen. Theo war in den Bug des Bootes geschleudert worden. Er landete auf der rechten Seite und schlug mit dem Knie auf. Sein Oberarm, der noch immer von dem Schnitt schmerzte, krachte gegen den Metallrahmen. Die Wunde riss noch weiter auf, und der Schmerz durchfuhr ihn bis zum Ellbogen. Michelle prallte mit der Stirn gegen die Bank. Sie schrie auf und riss die Arme hoch, um ihr Gesicht zu schützen.
Theo sprang aus dem Boot, stopfte eilig den Revolver ins Holster und half Michelle an Land. Sie hielt sich benommen den Kopf und tastete nach der Taschenlampe.
»Komm schnell!«, schrie Theo, denn das Motorengeräusch wurde lauter.
Michelle bekam die Taschenlampe schließlich zu fassen und nahm sie an sich. Sie spürte, wie Theo sie packte und mit sich zog. Ihr Herz pochte heftig, und ihr Kopf fühlte sich an, als wäre er gespalten. Während sie vorwärts stolperte, raubte der Schmerz ihr die Sicht.
Theo legte den Arm um sie, drückte sie an sich und trug sie mehr oder weniger durch das Dickicht. Er hatte nicht die leiseste Ahnung, wohin sie liefen. Ohne jede Orientierung rannte er durch das Gestrüpp und schob die stacheligen Äste mit dem Arm beiseite. Er hörte noch immer das Röhren des Motors in der Ferne und wollte Michelle möglichst weit wegbringen, ehe die Angreifer ihr Boot vertäuen konnten und die Verfolgung aufnahmen.
Sie kämpften sich durch die Büsche und den morastigen Grund und hielten zweimal inne, um zu horchen, ob die Männer ihnen auf den Fersen waren. Endlich brachen sie durchs Unterholz und standen auf offenem Feld.
Michelle blieb stehen, um zu Atem zu kommen. Sie wusste nicht genau, wo sie sich befanden.
»Soll ich es riskieren?«, fragte sie, als sie die Taschenlampe hochhob und den Daumen an den Schalter legte. »Ich glaube kaum, dass sie das Licht sehen, wenn ich es nur eine Sekunde anschalte.«
»Mach’s.«
Sie knipste das Licht an und holte erleichtert Luft. »Ich glaube, ich weiß, wo wir sind.« Sie machte die Lampe wieder aus. »Es ist etwa eine Meile bis zum Schwan.«
Sie standen neben einem Feldweg, der in Theos Augen aussah wie ein Dutzend andere auch.
»Bist du sicher?«
»Ja.«
Er nahm ihre Hand und rannte erneut los. Wenn sie die Kurve hinter sich bringen konnten, bevor ihre Verfolger aus dem Sumpf kamen, hatten sie es geschafft. Immer wieder spähte er über die Schulter und hielt nach Lichtern Ausschau. Er hörte jedoch nichts außer ihrem eigenen stoßartigen Atem und ihren Schritten.
Michelle machte noch einmal Licht, und zwar genau zur rechten Zeit, sonst wären sie in der Kurve von dem Feldweg abgekommen. Als sie sich umdrehte, stolperte sie, aber Theo fing sie auf. Wieder warf er einen Blick zurück und sah, wie ein schwacher Lichtkegel den Weg ableuchtete. Er beschleunigte seinen Schritt. Er
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