Gnade
Augenblick schaltete Michelle das grelle Deckenlicht ein und schrie: »John Paul! Nein! Lass ihn los!«
Als John Paul die Stimme seiner Schwester vernahm, ließ er sofort von Theo ab. Theo hingegen versuchte noch einen Hieb zu landen und hoffte, dem Kerl das Gesicht zu zertrümmern. Doch John Paul fing den Schlag mit Leichtigkeit ab. Dabei streifte seine Hand eine Whiskyflasche. Krachend zerschellte sie auf dem Boden.
Beide Männer traten einen Schritt zurück und taxierten sich von Kopf bis Fuß. Michelle drängte sich zwischen sie, sah von einem grimmigen Gesicht zum anderen und registrierte, dass sich Theo nicht mehr unter Kontrolle hatte, Sie legte eine Hand an seine Brust, riet ihm, tief durchzuatmen, und wartete, bis er wieder zu sich gekommen war.
Theo funkelte den anderen wütend an. John Paul sah aus wie ein Wilder. Er trug armeegrüne Shorts, Stiefel und ein T-Shirt, und er war mit mächtigen Muskeln bepackt. Ein Bowiemesser steckte im Futter des rechten Stiefels, und der eisige, verächtliche Blick verriet, dass er nach wie vor große Lust hatte, Theo jeden Knochen im Leib zu brechen. Der war noch immer außer Atem. Die Rangelei hatte ihn angestrengt, und außerdem hatte er sich große Sorgen um Michelle gemacht. Ihr Bruder hätte eine Hauptrolle in einem Vietnam-Kriegsfilm spielen können. Seine Haare waren ziemlich lang, und er hatte Narben auf der Wange und auf einem Schenkel. Sein Anblick vermittelte Theo den Eindruck, als befände er sich auf einer Reise in die Vergangenheit.
»Theo, ich möchte dich mit meinem Bruder John Paul bekannt machen.« Michelle setzte voraus, dass sich Theo wieder in der Gewalt hatte, und wandte sich ihrem Bruder zu. »John Paul, das ist …«
Ihr Bruder schnitt ihr das Wort ab. »Ich weiß, wer er ist.«
Theo blinzelte. »Sie wissen, wer ich bin?«
»Ganz recht«, bestätigte John Paul.
John Paul war in seinem ganzen Leben noch nie einem Kampf ausgewichen, und als Theo einen Schritt auf ihn zukam, tat er es ihm augenblicklich gleich. Michelle drängelte sich erneut zwischen die beiden Kampfhähne.
»Wenn Sie wussten, wer ich bin, wieso haben Sie mich dann angegriffen?«, grollte Theo.
»Ja, warum?«, wollte auch Michelle wissen und schaute ihrem Bruder eindringlich in die Augen. »Das war wirklich ungehörig, John Paul!«
Seine Schwester verstand es, ihn zum Lachen zu bringen. Es kostete John Paul viel Mühe, seine ärgerliche Miene beizubehalten. Ungehörig! Zum Teufel, ja, vermutlich war es ungehörig gewesen. Er verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich konnte nicht zulassen, dass er die Flinte an sich nimmt«, erklärte er Michelle. »Hätte ja sein können, dass er zu den schreckhaften Typen gehört und aus Versehen jemanden umlegt oder sich selbst in den Fuß schießt.«
Das besänftigte Theo keineswegs. Er kam noch einen Schritt näher. »Sie haben absichtlich versucht, gegen mein verletztes Knie zu treten, stimmt’s?«
John Paul lächelte. »Man muss sich immer den schwächsten Punkt aussuchen«, sagte er. »Sie haben dieses Bein nachgezogen, deshalb dachte ich …«
»Sie wussten, dass ich ein Freund Ihrer Schwester bin, und Sie wollten mir trotzdem die Kniescheibe zertrümmern?«
»Ich hatte keineswegs vor, sie zu zertrümmern«, gab John Paul zurück. »Ich wollte nur, dass Sie zu Boden gehen.«
»Du hättest ihn noch schlimmer zurichten können«, schimpfte Michelle.
»Michelle, du musst mich nicht verteidigen«, brummte Theo. Sein männlicher Stolz war verletzt. Es fehlte nicht viel, und er wäre explodiert.
»Wenn ich ihn hätte zusammenschlagen wollen, dann wäre mir das auch gelungen. Ich hätte ihn sogar töten können.«
»Einen Scheiß hätten Sie!«, versetzte Theo. Er steckte den Revolver zurück ins Holster.
Michelle wandte sich Theo zu. Sie wollte ihm sagen, dass er John Paul nicht weiter reizen solle, doch dann bemerkte sie das Blut an seinem Arm. Sie schaltete das Licht über der Bar ein und näherte sich ihm, um die Wunde in Augenschein zu nehmen. In dem hellen Licht sah sie eine Glasscherbe in der Wunde glitzern. »Wann ist das denn passiert? Die Wunde muss genäht werden!« Sie ließ ihm keine Zeit für Erklärungen, sondern wirbelte herum und bohrte ihren Finger in John Pauls Brust. »Hast du das gemacht? Was hast du dir dabei gedacht?«
Theo grinste. Er hätte ihrer Schimpftirade ein Ende setzen und alles aufklären können, aber es machte ihm Spaß zu beobachten, wie sich ihr Bruder vor Verlegenheit wand. Michelle las
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