Gnade
war davon überzeugt, dass ihre Verfolger sie nicht gesehen hatten.
»Alles in Ordnung«, keuchte Michelle. »Ich kann ohne deine Hilfe weiterlaufen.«
Er lockerte seine Umklammerung und nahm stattdessen ihre Hand. Dann bemerkte er ein Licht, das in der Ferne funkelte wie ein Stern, und hielt darauf zu.
Michelle hatte Seitenstechen, und ihr Kopf tat so weh, als würde er gleich explodieren. Sie erreichten eine Kreuzung, und Michelle beugte sich vor und stützte die Hände auf die Knie.
»Der Schwan liegt an dieser Straße auf der linken Seite«, japste sie. »Von dort aus können wir die Polizei anrufen.«
Es war eine Kiesstraße, und Theo konnte sich erinnern, dass er hier entlanggefahren war. Während sie weiterliefen, ließ er den Blick unaufhörlich rechts und links über die Büsche schweifen und überlegte, wo sie Deckung suchen konnten, falls sie jemanden näher kommen hörten.
»Ist wirklich alles okay?«, raunte er.
»Ja, alles in Ordnung«, antwortete sie.
Als sie das dunkle Gebäude vor sich auftauchen sah, kamen ihr beinahe die Tränen vor Erleichterung. Die Euphorie war allerdings nur von kurzer Dauer, denn gleich darauf hörte sie, wie ein Wagen hinter ihnen mit quietschenden Reifen um die Kurve raste.
Sie hatte keine Zeit nachzudenken. In der einen Sekunde blickte sie über die Schulter, in der nächsten flog sie bereits durch die Luft und landete neben Theo im Graben am Straßenrand. Michelle schlug hart auf. Theo kauerte neben ihr und zückte den Revolver, ohne die Straße aus den Augen zu lassen. Glücklicherweise waren sie gut hinter Büschen und Sträuchern versteckt. Michelle tastete vorsichtig die Beule an ihrer Stirn ab und verzog das Gesicht.
Das Auto blieb ganz in der Nähe stehen. Als Michelle hörte, wie jemand auf das Gebüsch gleich neben ihnen einschlug, widerstand sie nur mühsam dem Drang hochzufahren. Sie hielt die Luft an, bis ihre Lunge brannte. Dann atmete sie langsam und leise aus und umklammerte krampfhaft Theos Knie. Im Gestrüpp wurde weiter gestöbert. Ein Mann brummte wütend und ging zurück zum Wagen. Der Kies knirschte unter seinen Schuhen.
Die feuchte, kühle Luft tat ihre Wirkung. Michelle spürte, wie ihr Wasser in die Augen stieg, und sie musste niesen. Bitte, lieber Gott, nicht jetzt! Sie hielt sich die Nase zu und atmete durch den Mund. Tränen strömten ihr über die Wangen, und sie zog sich hastig das T-Shirt über den Mund.
Eine Autotür schlug zu, und der Wagen rollte weiter. Aber Theo wollte kein Risiko eingehen und lauschte auf jedes Geräusch. Wie viele Kerle waren ihnen wohl auf den Fersen? Er war sicher, dass ihnen zu Beginn auf jeden Fall vier Männer aufgelauert hatten. Zwei hatte er im Vorgarten gesehen, und die anderen beiden hatten im Boot gewartet. Offensichtlich hatten sie geplant, Michelle und ihn im Haus zu überraschen. Theo schwor insgeheim, dass er sich, sobald sie in Sicherheit waren, jeden einzelnen der Typen vorknöpfen würde. Schließlich verlagerte er sein Gewicht, um das schmerzende Knie zu entlasten. Er legte den Arm um Michelle, beugte sich zu ihr und flüsterte: »Sie suchen im Schwan nach uns. Wir bleiben hier, bis sie weg sind. Hältst du noch durch?«
Sie nickte. Er wandte sich wieder der Straße zu, um die Umgegend zu beobachten, und Michelle lehnte die Wange an seinen Rücken und schloss die Augen. Ihr Herzschlag beruhigte sich allmählich. Sie wollte die Verschnaufpause nutzen und wieder ein wenig zu Kräften kommen, für den Fall, dass sie erneut loslaufen mussten. Wer waren diese Männer bloß, und weshalb waren sie hinter ihnen her?
Der Regen hatte glücklicherweise aufgehört. Wie lange warteten sie nun schon? Michelle kam es vor, als wäre eine Stunde vergangen, seit sie im Gestrüpp abgetaucht waren. Gleichzeitig erschien es ihr, als würde die Zeit stillstehen, seit der erste Schuss gefallen war.
Sie hörte ein Auto, noch bevor sie die Scheinwerfer durch die Äste sah. Es raste auf der Straße an ihnen vorbei, ohne langsamer zu werden.
Theo verhielt sich ganz still, dann beugte er sich vor, um zu sehen, welche Richtung es einschlug. Es bremste vor der Kreuzung kurz ab und fuhr geradeaus weiter. Das bedeutete, dass die Männer noch nicht aufgegeben hatten und die Suche wahrscheinlich an einem anderen Feldweg fortsetzten. Theo konnte leider das Nummernschild nicht erkennen.
»Sie werden bald aufhören, uns zu suchen«, flüsterte Michelle. »Es dauert nicht mehr lange, bis es hell wird, und sie wollen sicher
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