Gnade
mir wirklich unbegreiflich.«
»Hmm.«
»Mach die Augen auf!«, forderte sie.
John Paul stöhnte laut, dann tat er, was sie verlangte. »Was ist denn?«
»Fällt dir etwas Nettes ein, was du über sie sagen könntest?«
»Klar. Sie war selbstsüchtig, zwanghaft, habgierig …«
Michelle zwickte ihn. »Etwas Nettes!«
»Sie ist tot. Das ist nett.«
»Schäm dich! Bist du nicht hungrig?«
»Nein.«
»Ich glaub dir kein Wort! Du hast doch sonst ständig Hunger. Also komm und hilf mir!«
Als sie Anstalten machte aufzustehen, packte er ihren Arm. »Wann verschwindet Theo endlich von hier?«, flüsterte er.
Diese Frage kam aus heiterem Himmel und überrumpelte Michelle regelrecht. »Am Montag«, flüsterte sie zurück. »Er fährt zusammen mit seinem Freund Noah morgens ab.«
Sie bemerkte, wie traurig ihre Stimme klang. Sie versuchte gar nicht erst, so zu tun, als würde es ihr nichts ausmachen. Ihren Bruder konnte sie ohnehin nicht hinters Licht führen. John Paul kannte sie besser als irgendjemand sonst auf der Welt, und er hatte sie stets durchschaut.
»Du hast eine Dummheit gemacht«, raunte er.
Sie nickte. »Ja.«
»Du hättest nicht zulassen dürfen, dass du so verletzbar bist.«
»Ich weiß.«
»Warum hast du dich dann nicht zurückgehalten? Er ist ein Fremder.«
»Ich habe das alles nicht kommen sehen. Was soll ich sagen? Es ist … einfach passiert.«
»Und?«
»Und was?«
»Wirst du am Boden zerstört sein, wenn er abreist?«
»Nein«, hauchte sie sehr leise. »Nein!« Das klang schon entschlossener.
»Wir werden sehen.«
Theo achtete gar nicht auf die beiden. Er betrachtete gerade das verblasste Foto einer schönen jungen Frau. Sie posierte unter einem Baum und hielt einen Strauß Gänseblümchen in der Hand. Die Frau trug ein knöchellanges helles Kleid mit einem Band um die Taille, das bis zum Saum hinunterhing. Ihr kurz geschnittenes lockiges Haar umrahmte ein engelgleiches Gesicht. Es handelte sich um ein Schwarzweißfoto, aber Theo stellte sich unwillkürlich vor, dass sie rotes Haar und blaue Augen hatte. Wenn die Kleidung und die Frisur moderner gewesen wären, hätte er es für eine Aufnahme von Michelle gehalten.
»Das ist meine Ellie«, sagte Jake. »Sie ist hübsch, nicht wahr?«
»Ja, Sir, das ist sie.«
»Wenn ich meine drei Kinder anschaue, dann sehe ich in allen meine Frau. Remy hat ihr Lachen, John Paul ihre Liebe für die freie Natur, und Michelle hat ihr Herz.«
Theo nickte. John Paul hatte sich inzwischen erhoben und wollte Michelle in die Küche folgen, aber als er hörte, dass Jake über seine Mutter sprach, blieb er stehen und spähte Theo kurz über die Schulter. Als Theo umblätterte, ging er weiter. Das nächste Foto war eine Aufnahme von Remy und John Paul als Kinder, und zwischen ihnen stand ein Mädchen. Die Jungs sahen aus, als hätten sie sich gerade im Schlamm gewälzt. Sie schienen sich jedoch wohl zu fühlen und grinsten spitzbübisch. Das Mädchen blickte ernst in die Kamera. Es trug ein Kleid, aus dem es augenscheinlich längst herausgewachsen war.
»Das ist Catherine«, erläuterte Jake. »Sie musste immer Kleider tragen, egal, bei welcher Gelegenheit. Ich erinnere mich noch daran, dass sie ihrer Mutter ständig in den Ohren lag, dass sie diesen oder jenen Saum ändern und die Kleider weiter machen sollte. Catherine hatte stets einen gesunden Appetit.«
Theo schlug die nächste Seite auf. Nachdem die beiden weggezogen waren, schien Catherines Mutter Jake Fotos geschickt zu haben, denn er sah nun mindestens zwanzig Bilder, auf denen das Mädchen etwas älter wirkte. Auf jedem trug es ein Kleid, aber die Qualität der Stoffe hatte sich offensichtlich verbessert. Auf einem Bild stand Catherine vor einem Weihnachtsbaum und hielt zwei identische Puppen in den Armen, und auf einem anderen erblickte Theo das Kind mit zwei völlig gleich aussehenden Teddybären.
Als Jake das Foto betrachtete, kicherte er. »Catherine musste immer alles doppelt haben«, sagte er. »Manche Leute, die arm waren und plötzlich zu Geld kommen, können nie genug bekommen. Wissen Sie, was ich meine?«
»Ja«, antwortete Theo. »Viele, die die Weltwirtschaftskrise miterlebt haben, hamstern wie verrückt. Sie legen sich wohl Vorräte für die nächste an.«
»Ja, Catherine war genauso. Von der großen Wirtschaftskrise hat sie zwar nur im Geschichtsunterricht gehört, aber sie hat sich benommen, als hätte sie sie miterlebt. Sie hatte immer Angst, plötzlich mit nichts
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