Gnade
werden sollten. Rosa Maria Vincetti bekam als Anerkennung für die jahrelangen treuen Dienste hundertfünfzigtausend Dollar. John Russell, Catherines Ehemann, erhielt einhundert Dollar, der Rest des Riesenvermögens ging an das Epston-Vogelasyl.
»Ihr Mann bekommt nur einhundert Dollar?«, fragte Michelle erstaunt.
»Vielleicht war die Ehe nicht glücklich«, mutmaßte Jake.
»Was du nicht sagst!«, rief John Paul.
»Rosa konnte ihn auf jeden Fall nicht leiden«, fügte Jake hinzu. »Ich finde es sehr nett von Catherine, dass sie ihrer Haushälterin etwas hinterlassen hat. Aber Rosa hat sie auch stets gut versorgt.«
»John muss einen Ehevertrag unterschrieben und sich mit einer Gütertrennung einverstanden erklärt haben, sonst hätte Catherine nicht über ihr gesamtes Vermögen verfügen können«, überlegte Michelle.
»Er wird bestimmt trotzdem versuchen, ihr Testament anzufechten«, sagte Theo. »Was macht der Mann denn beruflich?«
»Er ist Jurist«, erklärte Jake. »Er arbeitet für eine große Bank in New Orleans. Ich habe mit ihm noch nie ein Wort gewechselt, das ist wirklich eine Schande. Mike und ich hatten nicht einmal bei dem Begräbnis die Gelegenheit, mit ihm zu sprechen. Weißt du noch, Süße?«
»Ja, Daddy. Aber das war meine Schuld. Ich musste schnell zurück ins Krankenhaus, und du hast mich hingefahren.«
Theos Handy klingelte. Noah war dran.
»Wo bist du?«, wollte Theo wissen.
»Ich bin gerade in St. Claire eingetroffen«, antwortete Noah.
»Komm zu Jakes Haus. Kennst du den Weg?«
»Ja. Ich bin in zehn Minuten da.«
»Was hast du herausgefunden?« Theo ging schnellen Schrittes durch die Küche auf die Veranda und zog die Tür hinter sich zu. Offenbar wollte er ungestört mit seinem Freund sprechen.
Während Michelle den Tisch deckte, lehnte John Paul an der Arbeitsplatte in der Küche und sah sie mit grimmigen Augen an.
»Was ist los?«, fragte sie und holte Sets aus der Tischschublade.
»Du lässt einen FBI-Agenten in dieses Haus?«
»Ja«, sagte sie knapp. »Und fang jetzt bloß nicht an zu nörgeln, John Paul. Ich bin nicht in der Stimmung, mit dir zu streiten. Und du wirst Noah gegenüber höflich sein.«
»Glaubst du?«
»Ich weiß es. Daddy? John Paul …«
Sie hielt inne. Ihr Bruder schüttelte ärgerlich den Kopf, dann grinste er. »Du bist immer noch eine Petze!«
Sie lächelte ebenfalls. »Es funktioniert doch gut, oder? Danke, John Paul!«
»Ich habe nicht gesagt …«
»Das brauchst du auch nicht. Du wirst versuchen, dich daran zu erinnern, wie man einem Gast freundlich gegenübertritt.« Sie legte die Sets auf den Tisch. Dann stützte sie müde den Kopf in die Hände. Sie musste wieder an die hunderttausend Dollar denken, und ihre Schuldgefühle wurden immer stärker. Warum tat eine so niederträchtige Person wie Catherine plötzlich etwas derart Nettes? Und was hatte Catherine ihr sonst noch durch ihren Anwalt zukommen lassen, das sowohl für die Polizei als auch für diese Männer von dermaßen großem Interesse war, dass sie dafür sogar einen Mord begehen würden?
Ihr Vater saß neben ihr und blätterte gedankenversunken in dem Album.
»Arme Catherine!«, sagte Michelle. »Sie hatte bestimmt nicht viele Freunde. Bei der Beerdigung waren kaum Leute. Die Einzige, die Tränen vergossen hat, war die Haushälterin. Weißt du noch, Daddy? Ich fühle mich irgendwie schlecht.«
Sie erinnerte sich an die jämmerlich kleine Prozession, die über den Friedhof gezogen war. Rosa hielt die ganze Zeit über ihren Rosenkranz in den Händen und weinte, während John hinter dem Priester herging und sich immer wieder zu Jake und Michelle umdrehte. Da sie diesem Mann nie zuvor begegnet waren, nahm Michelle an, dass er sich fragte, wer sie wohl sein mochten. Ein anderer Mann hatte auch immer wieder zu ihnen herübergeblickt. Er ging neben John, und er …
»O mein Gott! Das ist der Mann … er war es!«, schrie Michelle und sprang auf. In ihrer Aufregung warf sie einen Stuhl um. Sie musste Theo auf der Stelle erzählen, was ihr gerade eingefallen war. Ungeduldig hob sie den Stuhl auf und stürmte durch die Küche. In dem Moment kam Theo herein und beendete das Telefongespräch. Er griff nach ihrem Arm und zog sie hinaus auf die Veranda.
»Was ist los?«
»Ich weiß wieder, wo ich den Mann schon mal gesehen habe! Erinnerst du dich, dass ich dir gesagt habe, dass er mir bekannt vorkam? Es ist derselbe Kerl!« Die Worte sprudelten nur so aus ihr heraus.
»Beruhige
Weitere Kostenlose Bücher