Gnade
gerade mit Remy telefoniert. Ich wollte ihm von der Großzügigkeit seiner Cousine erzählen, und er hat genau wie du und John Paul reagiert. Ich habe drei zynische Kinder großgezogen.« Er seufzte.
Michelle hatte Schwierigkeiten, die schockierende Neuigkeit zu verdauen. »Catherine Bodine hat uns hunderttausend …«
John Paul lachte. »Du stammelst, Schwesterherz.«
»Sei still, John Paul!«, befahl sein Vater. In sanfterem Ton sagte er zu Michelle: »Catherine hat uns nicht gehasst, wie du siehst. Sie konnte nur nicht viel mit uns anfangen, das ist alles. Sie war anders als wir. Und wir haben sie an schwere Zeiten erinnert.«
Michelle wurde sich plötzlich bewusst, dass Theo nicht die geringste Ahnung hatte, worüber sie sprachen. »Meine Cousine war etwa sieben oder acht Jahre alt, als ihre Mutter einen wohlhabenden Mann namens Bodine heiratete. Sie zogen nach New Orleans und brachen die Verbindung zu uns praktisch ganz ab. Ich habe Catherine nie kennen gelernt. Ich kann nicht glauben, dass sie uns nun etwas vermacht hat.«
»Catherines Mutter war die Schwester meiner Frau«, erklärte Jake. »Sie hieß Junie. Als sie schwanger wurde, war sie nicht verheiratet. Damals war es noch ein Skandal, wenn eine ledige Frau ein Kind bekam, aber mit der Zeit wuchs Gras über die Sache. Junies Vater hat ihr diesen Fehltritt allerdings nie verziehen. Er warf sie kurzerhand aus dem Haus. Ellie und ich waren damals frisch verheiratet, und Junie zog zu uns. Auch nachdem das Baby auf die Welt gekommen war, blieb sie hier wohnen. Wir hatten nicht viel Platz, aber wir kamen zurecht«, fügte er hinzu. »Dann lernte Junie diesen reichen Kerl kennen, heiratete ihn und zog nach New Orleans. Als Catherine elf Jahre alt war, starb Junie. Ich wollte, dass das Kind nicht vergaß, dass es eine Familie in Bowen hatte, die es liebte, also rief ich Catherine mindestens einmal im Monat an und besuchte sie gelegentlich. Wir hatten einander eigentlich nie viel zu sagen. Ich gab jedes Mal mächtig mit meinen drei Kindern an, damit sie etwas über ihre Cousins und ihre Cousine erfuhr. Catherine war ehrlich beeindruckt, als sie hörte, dass Mike Ärztin werden wollte. Sie war stolz auf dich, Süße. Sie hat es nur nie gesagt.«
»Catherine hat dich nicht einmal zu ihrer Hochzeit eingeladen«, rief Michelle ihrem Vater ins Gedächtnis. »Ich weiß, dass dich das verletzt hat.«
»Nein, das hat es nicht. Außerdem war es nur eine ganz kleine Hochzeit auf dem Standesamt. Das hat sie mir selbst gesagt.«
Michelle hatte einen Ellbogen auf den Tisch gestützt, und während sie über den unerwarteten Geldsegen nachdachte, wickelte sie geistesabwesend eine Haarlocke um ihren Finger. Das Geld war wirklich ein Geschenk. Damit konnte sie ihre Praxis wieder in Ordnung bringen lassen und außerdem eine Sprechstundenhilfe einstellen.
Ihr Vater beobachtete sie mit einem Lächeln. »Da – du machst es wieder: Du drehst deine Haare um den Finger.« Er wandte sich an Theo. »Als sie noch ein kleines Ding war, hat sie das ständig gemacht und außerdem am Daumen gelutscht, bis sie eingeschlafen war. Ich kann mich gar nicht mehr entsinnen, wie oft Remy oder ich die Knoten in ihren Haaren entwirren musste.«
Michelle ließ die Strähne los und faltete die Hände. »Ich fühle mich irgendwie schuldig«, gestand sie, »weil mir nichts Nettes einfällt, was ich über Catherine sagen könnte. Und dabei weiß ich schon genau, wofür ich das Geld ausgeben werde.«
Jake schob Theo das dicke Familienalbum mit dem schwarzweiß karierten Einband zu. Theo schlug es auf und setzte seine Brille auf – damit sah er beinahe aus wie ein Gelehrter. Aufmerksam betrachtete er die Fotos, und Jake erläuterte ihm, wer die einzelnen Personen waren. Michelle stand auf, um für sich und Theo eine Cola light zu holen.
Sie legte die Hand auf seine Schulter und fragte: »Hast du Hunger?«
»Ja, wie immer«, erwiderte er und blätterte eine Seite um.
»Daddy, Theo möchte sich bestimmt nicht all unsere Fotos anschauen.«
»Doch, es interessiert mich sehr.«
Michelle wandte sich an ihren Bruder. »John Paul, mach Theo und mir doch bitte etwas zum Essen!«
»Sonst noch was?«
Michelle ging zum Sofa und setzte sich auf seinen Bauch. Er wusste, was sie vorhatte, und wappnete sich.
»Ich schlafe«, knurrte er. »Lass mich in Ruhe!«
Sie ignorierte sein Murren und zupfte ihn an den Haaren. »Kannst du es fassen, dass Catherine uns so viel Geld vermacht hat?«
»Nein.«
»Es ist
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