Gnade
wünschte, sie hätte einen Rock eingepackt, aber so hatte sie lediglich die Wahl zwischen dunkelblauen Shorts und einer Jeans. Angesichts der enormen Hitze entschied sie sich für die Shorts. Als Oberteil hatte sie nur eine blassgelbe Bluse mitgenommen.
Barfuß tapste sie mit ihrer Kosmetiktasche unter dem Arm durch den Flur und verstaute sie im Schrank im Schlafzimmer. Theo kam herein, um seine Brille zu holen. Er hatte das Handy am Ohr und musterte Michelle von oben bis unten. Sein Blick verweilte auf ihren Beinen. Zerstreut bat er die Person am anderen Ende der Leitung, den letzten Satz noch einmal zu wiederholen.
»Ich habe verstanden. Ja, ihr Dad hat vor etwa einer Stunde eine beglaubigte Benachrichtigung erhalten. Nein, Michelle weiß es noch nicht. Ich überlasse es Jake, ihr die Neuigkeit mitzuteilen. Bis dann.« Er legte auf.
»Wer war das?«, fragte Michelle.
»Ben. Er wartet immer noch auf den Bericht von der Spurensicherung.«
»Welche Neuigkeit soll Dad mir mitteilen?«
»Es sind auf jeden Fall gute Neuigkeiten«, beteuerte Theo.
»Waren vorhin irgendwelche Leute hier? Ich hatte den Eindruck, ich hätte die Tür und fremde Stimmen gehört.«
»Ein paar Freunde von deinem Dad haben das Essen aus deinem Haus hergebracht. Auf dem Küchentisch stehen jetzt vier Pasteten«, fügte er grinsend hinzu.
»Aber keine Karten, richtig?«
»Mike, ich will mit dir reden!«, hörte sie ihren Vater rufen.
»Ich komme, Daddy!«
Sie und Theo gingen gemeinsam ins Wohnzimmer. Michelle registrierte das Fotoalbum auf dem Tisch und flüsterte: »Oh, Daddy ist melancholisch.«
»Mir kommt er eher glücklich vor.«
»Er ist melancholisch! Er holt das Familienalbum nur heraus, wenn er niedergeschlagen ist.«
John Paul lag auf dem Sofa. Seine Hände ruhten auf der Brust, seine Augen waren geschlossen. Jake saß an dem großen runden Eichentisch neben dem Eingang zur Küche.
»Tut es dir gar nicht Leid, dass du nicht auf der Beerdigung warst?«, fragte er seinen Sohn.
John Paul antwortete, ohne die Augen zu öffnen: »Nein.«
»Das sollte es aber«, sagte Jake. »Deine Cousine war längst nicht so sauertöpfisch, wie du dachtest.«
»Ich habe nie behauptet, dass sie sauertöpfisch ist. Ich habe gesagt, sie …«
Sein Vater brachte ihn eilends zum Schweigen. »Ich erinnere mich sehr gut an das, was du gesagt hast, aber ich möchte nicht, dass du es vor anderen Leuten wiederholst. Außerdem weiß ich, dass du es bereust.« Außer einem Grunzen gab John Paul keine Antwort. »Deine Cousine hat trotz allem an die Familie gedacht. Mike, komm und setz dich zu mir! Ich habe dir etwas Wichtiges zu erzählen. Theo, nehmen Sie auch Platz. Ich möchte, dass Sie sich ein paar Fotos ansehen.«
Theo rückte für Michelle einen Stuhl zurecht und ließ sich neben ihr nieder. »Mach dich auf was gefasst, Süße! Das wird ein Schock für dich sein.«
»Wer ist gestorben?«
Ihr Vater blinzelte. »Es geht um deine Cousine Catherine Bodine.«
»Die Tote«, kommentierte John Paul.
»Ihr habt doch nur diese eine Cousine aus der Familie eurer Mutter.« Jake schüttelte missbilligend den Kopf.
»Was ist denn mit ihr?«, hakte Michelle nach.
»Sie hat uns Geld hinterlassen. Einen Haufen Geld«, betonte er und zog die Augenbrauen hoch.
Michelle glaubte ihm kein Wort. »O Daddy, das muss ein Irrtum sein. Du willst mir weismachen, dass Catherine uns etwas vererbt hat? Nein, das hätte sie nie und nimmer getan!«
»Wenn ich’s dir doch sage!«, gab ihr Vater zurück. »Es ist schwer zu glauben, aber es ist wahr.«
»Aber warum sollte sie das tun? Sie hat uns gehasst.«
»Sag so etwas nicht!«, schalt Jake seine Tochter. Er zog ein Taschentuch aus der Hemdtasche und wischte sich über die Augen. »Eure Cousine war eine wunderbare Frau.«
»Das nenne ich Geschichtsklitterung«, brummte John Paul.
Michelle zeigte sich immer noch ungläubig und schüttelte den Kopf. »Das muss ein Irrtum sein.«
»Nein, Süße, es ist kein Irrtum. Willst du denn gar nicht wissen, wie viel sie uns hinterlassen hat?«
»Doch, natürlich«, erwiderte sie und fragte sich im Stillen, was für ein Spiel Catherine mit dieser Erbschaft trieb. Nach allem, was sie von ihren Brüdern über die Cousine gehört hatte, musste sie einen geradezu sadistischen Zug gehabt haben.
»Eure liebe Cousine hat jedem von uns hunderttausend Dollar vermacht.«
Michelle sah ihn entgeistert an. »Einhundert …«
»… tausend Dollar«, fuhr ihr Vater fort. »Ich habe
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