Gnade
lassen. Michelle ließ ihn toben. Als er fertig war, fragte sie lakonisch: »Fühlst du dich jetzt besser?«
»Ja.«
Er gab ihr sein Handy. »Ruf deinen Dad an und sag ihm, dass wir kommen.«
Sie wählte. Theo bog vom Parkplatz auf die Straße ein und fuhr in Richtung Bowen. Da er sich inzwischen ein wenig auskannte, erschienen ihm die Wege gar nicht mehr so kompliziert. Trotzdem fand er, dass ein paar Straßenschilder mehr nicht schaden konnten.
Im Haus von Michelles Vater ging niemand ans Telefon. Da sich Jake strikt weigerte, einen Anrufbeantworter anzuschaffen, konnte Michelle ihm auch keine Nachricht hinterlassen. Ihr fiel ein, dass John Paul ihr Handy hatte, und sie tippte ihre eigene Nummer.
»Ja?«
»Ist das eine Art, sich am Telefon zu melden?«, fragte Michelle.
»Oh, du bist’s«, sagte ihr Bruder. »Alles okay bei euch?«
»Ja. Theo und ich wollten eigentlich gleich zu Dad fahren. Weißt du, wo er sich herumtreibt?«
»Ja, hier bei mir. Wir sind auf dem Weg zu dir. Dad hat gehört, was passiert ist, und möchte mit eigenen Augen sehen, dass dir nichts fehlt.«
»Sag ihm, dass es mir gut geht.«
»Das habe ich bereits getan, aber er möchte sich selbst davon überzeugen.«
Bevor Michelle mit ihrem Vater sprechen konnte, legte John Paul abrupt auf. Sie drückte auf den roten Knopf und gab Theo das Handy zurück.
John Paul und Jake bogen gleich hinter ihnen in die Einfahrt ein. Nachdem Michelle ihren Vater beruhigt hatte, packte sie ein paar Kleider und Toilettenartikel zusammen, und dann verließen sie alle das Haus. John Paul schlug vor, Theos Mietwagen in der Einfahrt stehen zu lassen. Jeder, der vorbeikam, sollte annehmen, Theo und Michelle seien da. Theo sah keinen Sinn darin, hatte aber keine Lust, sich deshalb mit ihm zu streiten.
Der Pick-up brauchte dringend neue Stoßdämpfer. Michelle saß auf Theos Schoß und musste jedes Mal den Kopf einziehen, wenn ihr Bruder über ein Schlagloch fuhr. Jake sagte: »Ihr beide müsst nach dieser Nacht doch fix und fertig sein. Am besten, ihr legt euch erst mal hin und schlaft.«
Jake besaß ein recht geräumiges Haus. Von vorn sah es aus wie ein Fertighaus, das auf einem Untergrund aus Zement errichtet worden war. John Paul fuhr mit seinem Truck zur Rückseite, und Theo bemerkte, dass man von den Fenstern im Obergeschoss einen fantastischen Blick auf den Bayou hatte. Hinten war offenbar im Nachhinein angebaut worden. Wie Michelle hatte auch ihr Vater eine große überdachte Veranda, die zum Wasser hinausging. Drei kleine Boote waren am Steg vertäut.
Big Daddy mochte keine Klimaanlagen, deshalb hatte er seine auch so gut wie nie eingeschaltet. Die Böden bestanden aus alten abgenutzten Hartholzdielen, die im Wohnzimmer schon ziemlich verzogen waren. Überall lagen ovale Webteppiche. Die Luft war keineswegs stickig, denn die Ventilatoren an der Decke sorgten für eine frische Brise.
Sonnenlicht strömte durch die Fenster und warf helles Licht auf die alten Möbel. Theo trug Michelles Tasche hinein und folgte ihr durch einen langen Flur. Durch die offene Tür am Ende des Gangs sah er Jakes großes Doppelbett. Michelle öffnete eine Tür auf der linken Seite und betrat das Zimmer.
Dort standen zwei Einzelbetten mit einem Nachttisch dazwischen. Das Fenster ging zum Vorgarten hinaus. Es war heiß in dem Raum, und Michelle schaltete sofort die Klimaanlage ein. Sie streifte die Schuhe ab und setzte sich auf das Bett mit dem blauweißen Quilt. Jake hatte offenbar nicht viel übrig für schöne Farbzusammenstellungen – auf dem anderen Bett lag eine rotgelb gestreifte Decke. Michelle zog ihre Socken aus und ließ sich in die Kissen sinken. In weniger als einer Minute war sie eingeschlafen.
Theo machte leise die Tür hinter sich zu und ging ins Wohnzimmer.
Eine Stunde später wurde Michelle von Jakes donnerndem Gelächter wach. Sie stand auf, und bevor sie das Bad erreichte, bog Theo um die Ecke.
»Haben wir dich geweckt?«, fragte er.
Sie schüttelte den Kopf und trat beiseite, um ihn vorbeizulassen, aber er drängte sie gegen die Wand und küsste sie.
»So beginnt man einen neuen Tag: Man küsst eine schöne Frau«, sagte er und ging dann rasch zurück ins Wohnzimmer.
Als sich Michelle im Spiegel sah, war sie entsetzt. Höchste Zeit, ein bisschen Make-up ins Spiel zu bringen. Theo hatte sie als schön bezeichnet? Er sollte seine Brille besser ständig tragen.
Innerhalb einer halben Stunde hatte sie sich, so gut es ging, restauriert. Sie
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