Gnade
Streiche.«
»Was für Streiche?«
»Ich habe mir eingebildet, dass in der letzten Nacht jemand in meinem Haus war, während ich schlief. Ich habe Geräusche gehört und bin aufgestanden. Ich lief durchs ganze Haus, aber natürlich hatte sich niemand in den dunklen Ecken oder unter meinem Bett versteckt. Es kann ansonsten auch John Paul gewesen sein. Er schaut zu den seltsamsten Zeiten bei mir vorbei.«
»Aber es war nicht Ihr Bruder, oder?«
»Ich bin nicht sicher. Vielleicht war er schon weg, als ich seinen Namen rief. Möglicherweise war es auch nur ein schlechter Traum. Das Haus selbst macht übrigens auch Geräusche. Ich dachte sogar kurz, jemand wäre an meinem Schreibtisch gewesen. Er steht in der kleinen Bibliothek gleich neben dem Wohnzimmer.«
»Was hat Sie denn auf diese Idee gebracht?«
»Das Telefon steht immer rechts hinten auf meinem Schreibtisch. Es ist eine Art Spleen von mir, die Mitte der Tischplatte frei zu halten. Als ich heute Morgen hinunterkam, fiel mir sofort auf, dass das Telefon nicht an seinem üblichen Platz stand.«
»Sonst noch etwas Verdächtiges?«
»Ich habe das unheimliche Gefühl, dass mich jemand verfolgt.« Sie schüttelte den Kopf über diesen absurden Gedanken. »Ist das nicht paranoid?«
14
Theo bestätigte keineswegs, dass es paranoid war, und er machte sich auch nicht über sie lustig. Unglücklicherweise verriet seine Miene auf dem Weg zu Michelles Haus auch nicht andeutungsweise, was ihm durch den Kopf ging.
»Ist es das?«, fragte er und deutete mit dem Kopf auf das Haus in der Kurve.
»Ja.« Sie nickte. »Das einzige Haus in diesem Block ist meins.«
Er grinste. »Nur zu Ihrer Information: Ihr Haus steht an einem Feldweg, nicht in einem Block.«
»Nach Bowen-Standard ist das ein Block!«
Das Haus war wunderschön gelegen. Mindestens ein Dutzend großer Bäume stand rund um das Grundstück. Das Holzgebäude hatte eine breite Veranda mit Säulen und darüber drei Fenster im Dach. Etwa hundert Meter dahinter befand sich ein Flussarm, und als Theo in die Einfahrt bog, erblickte er noch mehr knorrige alte Bäume, die den Bayou säumten.
»Gibt es hier viele Schlangen?«
»Einige schon.«
»Kommen sie auch ins Haus?«
»Nein, das glücklicherweise nicht.«
Er atmete erleichtert auf. »Ich hasse Schlangen!«
»Ich kenne nicht allzu viele Menschen, die sie mögen.«
Er nickte und folgte ihr zu den Stufen, die zur Haustür hinaufführten. Ihm fiel sofort auf, dass Michelle anscheinend eine Schwäche für Blumen hatte. In den Fenstern zu beiden Seiten der Tür standen Blumentöpfe, und noch mehr fanden sich auf der Veranda. Dort wucherte außerdem üppiger Efeu in großen Tonkübeln.
Michelle schloss die Haustür auf und ging voran. Theo stellte seine Reisetasche neben eine alte Truhe im Flur und sah sich um. Alles deutete darauf hin, dass das ganze Haus sorgfältig restauriert worden war. Die Böden aus Hartholz sowie die Türen und Fensterrahmen waren frisch poliert und schimmerten honigfarben, die Wände waren in einem sanften Gelb gestrichen. Theo nahm den Geruch nach frischer Farbe wahr. Er lehnte seine Angelrute an eine Wand und schloss die Haustür. Dabei bemerkte er, wie windig es draußen war. Er öffnete die Tür noch einmal, bückte sich und untersuchte das Schloss auf Einbruchspuren. Es waren keine Kratzer zu sehen, aber Michelle musste das Schloss natürlich trotzdem so bald wie möglich auswechseln.
Er betrat den Flur. Zur Linken befand sich ein kleines Esszimmer mit einem dunklen Mahagonitisch, passenden Stühlen und einer wunderschön gearbeiteten Anrichte, die an der Wand gegenüber den Fenstern stand. Der Teppich verlieh dem Raum Farbe, er war sattrot mit gelbem und schwarzem Muster. Rechter Hand lag das Wohnzimmer. Ein dick gepolstertes beigefarbenes Sofa stand vor einem gemauerten Kamin, direkt gegenüber von zwei Sesseln. Eine Truhe war an einem Ende des Sofas platziert, und auf dem Kaffeetisch stapelten sich Unmengen von Büchern. Hinter einer großen Glastür entdeckte Theo Michelles Schreibtisch.
»Der Grundriss ist quadratisch«, erklärte Michelle. »Man kann vom Esszimmer in die Küche gehen, durch den Flur gelangt man in mein Arbeitszimmer, und von da aus kommt man durch die Glastür ins Wohnzimmer. Es gibt keine Sackgassen in diesem Haus, und das liebe ich.«
»Und wo sind die Schlafräume?«
»Oben sind zwei Schlafzimmer. Sie sind zwar geräumig, aber die Böden und Wände sind noch nicht fertig. Ich nehme mir ein Zimmer
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