Gnade
beileibe nicht auf ihrem Plan.
»Die Wahrheit ist, dass ich gar kein Schloss an meiner Tür habe«, erklärte sie. »Kommen Sie mit! Ich zeige Ihnen, wo Sie schlafen, und während ich im Kühlschrank stöbere, können Sie sich umziehen.«
Theo nahm seine Tasche und folgte ihr durchs Esszimmer in die Küche. Es war eine helle, freundliche Landhausküche und etwa doppelt so groß wie das Esszimmer. Ein alter Eichentisch und vier mit Farbe bespritzte Klappstühle standen darin. Über der alten Email-Spüle befanden sich drei kleine Fenster, durch die man die Veranda und den hinteren Teil des Gartens überblicken konnte. Der Garten war lang und schmal, und weit hinten entdeckte Theo einen Steg, der in das trübe Wasser des Bayous ragte. Ein Aluminiumboot war an einem Pfosten festgemacht.
»Angeln Sie an diesem Steg?«
»Manchmal«, antwortete sie. »Aber noch lieber sitze ich am Steg meines Vaters. Dort fange ich immer mehr Fische.«
Sie gingen in den Flur. Michelle wies nach oben. »Ihr Schlafzimmer ist das zum Garten hinaus«, bemerkte sie.
Theo ging nicht sofort hinauf. Er stellte die Reisetasche auf die Treppe, inspizierte das Schloss der Hintertür und schüttelte den Kopf. Das würde ein Zehnjähriger aufbekommen. Dann überprüfte er die Fenster im Parterre. Als er zu Michelle in die Küche zurückkehrte, sagte er: »Durch die Fenster könnte wirklich jeder ins Haus klettern. Nicht eins war verriegelt!«
»Ich weiß«, gab Michelle zu. »Ich werde sie von jetzt an immer brav abschließen.«
»Ich möchte Ihnen keine Angst einjagen«, gab Theo ihr zu verstehen, »aber soweit es die Verwüstung …«
»Würde es Ihnen etwas ausmachen, mit Ihrem Bericht bis nach dem Essen zu warten? Es war wirklich ein anstrengender Tag.«
Theo nickte. »Natürlich!«
Sie ging zum Kühlschrank und hörte, wie die Stufen der Treppe unter Theos Schritten knarrten. Das Eisenbett im Gästezimmer hatte eine alte Matratze, und sie wusste, dass seine Füße über das untere Ende hinausragen würden. Aber sie war davon überzeugt, dass er kein Wort über diese Unbequemlichkeiten verlieren würde.
Michelle fand Theos Bostoner Akzent einfach hinreißend. Während sie Gemüse auf die Arbeitsplatte legte, zwang sie sich jedoch, realistisch zu sein. Boston – eine völlig andere Welt und zudem so weit weg! Sie seufzte. Theo war zum Angeln hier und um sich für ihre Hilfe zu revanchieren. Er würde das Durcheinander, in das sie geraten war, klären und dann nach Boston zurückfahren.
»Ende der Geschichte!«
»Was haben Sie gesagt?«
Michelle zuckte zusammen. »Oh, ich habe mit mir selbst gesprochen.«
Theo trug nun eine verwaschene Jeans und ein graues T-Shirt, das eindeutig schon bessere Tage gesehen hatte. Seine einst weißen Tennisschuhe waren ebenfalls grau, und einer hatte an den Zehen ein Loch. Michelle fand Theo in diesem Aufzug unglaublich sexy.
»Was ist denn so lustig?«
»Sie! Ich hätte Jeans mit Bügelfalte erwartet«, bekannte sie. »Nein – das war ein Scherz«, fügte sie rasch hinzu, als sie seine gerunzelte Stirn sah. »Sie passen genau hierher – bis auf den Revolver.«
»Ich werde überglücklich sein, wenn ich das Ding endlich zurückgeben kann. Ich hasse Waffen, aber meine Vorgesetzten in Boston haben mich gebeten, den Revolver bei mir zu tragen, bis sich der Staub über meinen letzten Fall gelegt hat.«
»Haben Sie schon mal auf jemanden geschossen?«
»Nein, aber ich habe die Hoffnung noch nicht aufgegeben«, sagte er mit einem Zwinkern. »Darf ich den Apfel haben?«
Bevor sie ihm die Erlaubnis gab, hatte er den Apfel in der Hand und biss herzhaft hinein. »Mann, bin ich hungrig! Was kochen Sie eigentlich?«
»Es gibt gegrillten Fisch mit Gemüse und Reis. Ist das okay?«
»Ich weiß nicht. Klingt ein bisschen zu gesund für mich. Ich mag eigentlich lieber Junkfood.«
»So ein Pech! In meinem Haus müssen Sie schon mit gesundem Essen vorlieb nehmen.«
»Okay. Und nach dem Essen setzen wir uns zusammen und reden über das, was in Ihrem Leben so vor sich geht.«
»Zum Beispiel?«
»Zum Beispiel, wer Ihnen in diesem Ort das Leben versauen will«, sagte er. »Verzeihung, ich hätte sagen sollen: wer einen Groll gegen Sie hegt.«
»Ich habe schon Schlimmeres gehört«, entgegnete sie. »Früher, als ich noch klein war, hatte ich selbst ein ziemlich lockeres Mundwerk«, prahlte sie. »Ich habe von meinen Brüdern ganz schön deftige Ausdrücke aufgeschnappt. Mein Dad sagte immer, ich konnte einem
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