Gnade
bringe, sind wie Ratten. Wenn ich einen einsperre, nehmen drei andere seinen Platz ein. Es ist frustrierend.«
»Ich glaube, du erlebst gerade das Burn-out-Syndrom. Du hast dich wahrscheinlich nach dem Tod deiner Frau in die Arbeit gestürzt und erlaubst dir seitdem keinerlei Erholung.«
»Woher willst du das wissen?«
»Du hast erzählt, dass du gern mit den Händen arbeitest, aber dass du in den letzten vier Jahren keine Zeit für dein Hobby hattest. Mit anderen Worten: seit dem Tod deiner Frau.« Sie bemerkte, dass er sie unterbrechen wollte, deshalb fügte sie eilends hinzu: »Und auch zum Angeln bist du nicht gekommen. Du liebst es, aber wenn du davon redest, dann klingt es, als hättest du es zuletzt in einem anderen Leben genossen. Du hast dich lange genug bestraft, Theo. Du musst endlich loslassen.«
Am liebsten hätte Theo ihr an den Kopf geworfen, dass er keineswegs nach Bowen gekommen war, um therapiert zu werden, und dass sie ihn mit diesem Psychogeschwätz in Ruhe lassen sollte. Sie hatte seinen empfindlichsten Nerv getroffen. Dabei hatte sie nur das ausgesprochen, was er längst wusste. In den letzten vier Jahren war er durchs Leben gerannt, so schnell er konnte, nur damit er nicht über sein Versagen als Ehemann nachdenken musste oder darüber, dass er seine Frau nicht hatte retten können. Die Schuldgefühle nagten stetig an ihm. Sie hatten ihm seine Energie und Lebensfreude geraubt.
»Du solltest ein paar Wochen lang kürzer treten und alles einfach mal laufen lassen.«
»Ist das eine ärztliche Anordnung?«
»Ja«, bestätigte Michelle. »Du wirst dich wie ein neuer Mensch fühlen, das prophezeie ich dir.«
Sie machte sich Sorgen um ihn, das sah Theo in ihren Augen. Sie war rührend. Und was sollte er dagegen tun? Er mochte sie schon jetzt viel mehr, als er jemals geahnt hatte.
»Und falls du dich dann entscheidest, nach Boston zurückzugehen, hast du eine ganz neue Einstellung zu allem.«
»Falls ich zurückgehe?«
»Ich meinte, wenn du zurückgehst«, korrigierte sie sich schnell.
Er wollte in diesem Augenblick weder einen Gedanken an Boston, seine Arbeit, seine Zukunft noch an irgendetwas anderes verschwenden, und das sah ihm überhaupt nicht ähnlich. Seit er denken konnte, hatte er nichts gern dem Zufall überlassen, aber jetzt verspürte er nicht im Entferntesten den Drang, etwas zu planen. Er wollte genau das tun, was Michelle vorgeschlagen hatte: kürzer treten und alles laufen lassen.
»Es ist schon komisch«, stellte er fest.
»Was ist komisch?«
»Du und ich – es ist so, als hätte uns das Schicksal zusammengeführt.«
Sie lächelte. »Du bist ein einziger Widerspruch, Theo. Ein Anwalt mit romantischer Ader. Wer hätte gedacht, dass es so etwas gibt?«
Theo beschloss, in den Ton einzufallen. Michelle war leicht aus der Reserve zu locken, obwohl sie sich so gut sie konnte für seine Neckereien revanchierte. Es gefiel ihm, sie ein wenig in Verlegenheit zu bringen. Die allseits hoch geschätzte Ärztin konnte rot werden wie ein Teenager.
»Weißt du, was ich noch gedacht habe, als ich dich sah?«, fragte er mit einem schalkhaften Grinsen.
»Nein, was denn?« Sie warf ihm über die Schulter hinweg einen argwöhnischen Blick zu.
»Dass du sexy bist. Richtig sexy!«
»Oh.« Das klang wie ein Seufzer.
»Wie soll ich das deuten?«
Langsam wurde es brenzlig. »Der weite grüne Chirurgenkittel war’s, stimmt’s? Das Outfit ist wirklich antörnend.«
»Diese niedliche kleine Maske hat das Beste an dir verdeckt.«
»Meine Sommersprossen?«
»Nein, deinen Mund.«
Theo verstand es zu flirten. Er brachte sie dazu, sich vor Scham innerlich zu krümmen und gleichzeitig nach Luft zu ringen.
Michelle lächelte zuckersüß. »Das Beste an mir hast du noch gar nicht gesehen.«
Er zog auf diese wunderbare Cary-Grant-Art, die sie so liebte, eine Augenbraue hoch. »Wirklich?«, fragte er gedehnt. »Jetzt hast du mich neugierig gemacht. Du hast wohl nicht vor, mir zu verraten, was das Beste an dir ist, oder?«
»Natürlich nicht.«
»Möchtest du etwa, dass ich die halbe Nacht mit Grübeln verbringe?«
Genau das wollte sie. Sie hoffte, dass auch er sich ein wenig winden musste. Sie wusste schon jetzt, dass sie in der Nacht kaum zur Ruhe kommen würde. Warum sollte sie allein mit Schlafstörungen kämpfen? Wie du mir, so ich dir, dachte sie im Stillen. Mit einem Mal war sie äußerst zufrieden. Theo mochte ein Meister im erotischen Geplänkel sein, aber sie bekam allmählich das
Weitere Kostenlose Bücher