Gnade
…
Sie tippte ihm auf die Schulter. »Wer ist Priester?«
»Pater Tom Madden«, antwortete er. »Er ist wie ein Bruder für mich. Während der Grandschulzeit ist er mit seinen Eltern in unsere Gegend gezogen. Er ist in Nicks Alter, und die beiden sind die besten Freunde. Sie sind zusammen zur Penn State gegangen. Und Nick heiratet bald Tommys kleine Schwester.«
»Warum nennt Noah ihn Priester?«
»Weil es Tommy – und jetzt zitiere ich Noah – ›anpisst‹. Aber Tommy lässt ihm alles durchgehen.«
»Und warum?«
»Weil Noah fast dabei umgekommen wäre, als er Tommy das Leben rettete. Noah treibt Tommy manchmal in den Wahnsinn, aber sie sind richtig gute Freunde geworden. Die beiden und Nick gehen hin und wieder zusammen angeln.«
Michelle nickte. »Und diese letzte Zeile, die Noah geschrieben hat, was meint er mit ›hinsichtlich des anderen Problems‹?«
»Er weiß, dass ich hier nicht in meinem Element bin, und deshalb wird er ein paar Sachen für mich checken.«
»Deine Antwort ist so rätselhaft wie seine Nachricht.«
Michelle ging zu der Glastür, die das Arbeits- mit dem Wohnzimmer verband. Auf dem Sofa lagen einige medizinische Fachzeitschriften. Sie hob sie auf und stapelte sie auf den Tisch, dann ließ sie sich mit einem Seufzer in die Polster sinken. Sie hob ihre Haare hoch, um ihren Nacken ein wenig zu kühlen. Der dicke Bademantel erstickte sie fast. Sie nahm eins der Magazine zur Hand und fächelte sich damit Luft zu, aber ihr fiel noch rechtzeitig ein, dass sie sich damit verriet, und sie legte die Zeitschrift schnell wieder hin.
Theo lehnte sich auf dem Schreibtischstuhl zurück und spähte durch die halb offene Tür. »Alles okay? Du siehst ein bisschen erhitzt aus.«
Dem Mann entging wirklich nichts. »Ich bin nur müde.«
»Seit wann bist du denn auf den Beinen?«
»Seit vier Uhr heute Morgen.«
Er tippte etwas in den Computer, und als er fertig war, sagte er: »Ich lasse den Laptop noch an.« Dann stand er auf, streckte sich und ließ die Schultern kreisen.
Michelle musste an einen großen alten Kater denken. »Warum hast du eigentlich deinen Laptop mitgebracht? Wolltest du deine E-Mails lesen, während du angelst?«
»Es ist wie mit meinem Handy. Ohne fahre ich nirgendwohin. Möchtest du etwas zu trinken?«
»Nein, danke, aber bedien dich ruhig!«
Theo ging in die Küche, nahm eine Cola light aus dem Kühlschrank und durchsuchte den Vorratsschrank. Er fand eine Packung mit fett- und natriumarmem Zwieback und nahm sie mit ins Wohnzimmer.
Er ließ sich auf dem großen, dick gepolsterten Sessel nieder, kickte die Schuhe von den Füßen und schwang die Beine auf den Hocker, der einladend vor ihm stand. Die Coladose stellte er auf den Karton neben dem Sessel, hielt die Zwiebackschachtel hoch und fragte: »Willst du einen?«
»Ich habe mir gerade die Zähne geputzt. Bist du eigentlich niemals satt?«
»Solches Zeug kann ich immer essen.«
Er riss das Päckchen auf und fing an, den Zwieback aufzuessen. »Ich habe Freunde gebeten, einige Anrufe für mich zu tätigen, und einige meiner Mitarbeiter betreiben ebenfalls ein paar Nachforschungen für mich. Es ist keine schwierige Sache, deshalb hoffe ich, dass sie mir heute Nacht noch mailen. Dann hätte ich morgen alles parat, um loszuschlagen.«
»Du arbeitest fürs Ministerium, selbst wenn du Urlaub hast?«
»Nein – es geht um die Zuckermühle.«
Michelle richtete sich auf. »Ach? Glaubst du, du kannst Daryl und seiner Familie helfen?«
»Ich versuch’s. Was weißt du denn über die Carson-Brüder?«
»Nicht viel«, gestand sie. »Du solltest mal mit Daddy darüber reden. Er kennt die beiden seit Jahren und kann deine Fragen bestimmt beantworten. Dies ist eine kleine Gemeinde, und man bekommt leicht Informationen über die Leute, die hier leben. Jeder weiß, was der andere so treibt.«
»Und trotzdem weiß niemand irgendetwas über den Einbruch in deiner Praxis«, bemerkte Theo. »Ich habe noch mal darüber nachgedacht. Ich glaube nicht, dass Jugendliche dort ihr Unwesen getrieben haben.«
»Was glaubst du dann?«
»Das war ein Einzeltäter. Ich könnte mich natürlich irren, aber davon gehe ich erst mal nicht aus. Es gab ein Muster.«
»Das verstehe ich nicht. Was meinst du damit?«
»In dem Chaos ist eine gewisse Ordnung. Der Kerl kam durch die Hintertür herein …«
»Aber das Fenster im Empfangsbereich ist doch kaputt.«
»Das hat er von innen eingeschlagen. Das war nicht schwer zu erkennen. Die Lage der
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