Gnade
Scherben zeigt das ganz deutlich.«
»Und was hast du sonst noch festgestellt?«
»Ich bin nicht sonderlich geübt in solchen Dingen«, erklärte er. »Ich bin ja eigentlich Ankläger. Aber wenn es Kinder gewesen wären, die nach Drogen gesucht haben, wie dein Dad und dein Freund Ben Nelson vermuten, wieso sind dann die Untersuchungsräume weitgehend unberührt?«
»Die Glastüren und Schlösser der Medizinschränke sind doch zertrümmert.«
»Ja, aber die Einwegspritzen und Rezeptblöcke sind noch da. Und was ist mit der Patientenkartei, Michelle? Wieso sollte sich jemand die Zeit nehmen, die Karteien und Unterlagen zu durchstöbern?«
»Vielleicht hat derjenige sie einfach auf den Boden geworfen.«
»Mir sieht das Ganze nicht nach Vandalismus aus. Kids, die etwas verwüsten wollen, bringen außerdem ihre Ausrüstung mit.«
»Was zum Beispiel?«
»Sprühfarbe«, sagte er. »Der Kerl, der bei dir eingebrochen ist, hat deine Farbe benutzt, um die Räume zu verunstalten. Das bringt mich auf den Gedanken, dass er nicht von vornherein vorhatte, alles auseinander zu nehmen. Und die Müllsäcke sehen aus, als hätte sie jemand systematisch durchwühlt. Es war kein einziger Kratzer an der Hintertür. Das sagt mir, dass er die richtigen Werkzeuge dabeihatte und wusste, wie man damit umgeht.«
»Wie ein Profi?«
Diese Frage ließ er unbeantwortet. »Noah kommt morgen her. Wenn es dir nichts ausmacht, sollten wir in der Praxis alles so lassen, bis er sich dort umgesehen hat.«
»Nur bis morgen?«
»Ja.«
»Okay«, erklärte sie sich einverstanden. Ihre Freundinnen kamen ja ohnehin erst übermorgen zum Helfen. »Was ist Noah denn von Beruf?«
»Er ist beim FBI«, antwortete Theo ausweichend.
»Beim FBI?« Michelle konnte ihr Entsetzen nicht verbergen. »Dann denkst du …«
»Zieh keine voreiligen Schlüsse!«, unterbrach er sie. »Noah ist mein Freund, und ich halte es für eine gute Idee, wenn er sich deine Praxis einmal anschaut. Ich will lediglich seine Meinung hören. Außerdem ist er gerade ganz in der Nähe, und er liebt es, angeln zu gehen. Ein oder zwei Tage in Bowen sind eine Art Urlaub für ihn.«
»Ich weiß seine Hilfe zu schätzen – und deine natürlich auch –, aber ich frage mich, ob wir der Sache nicht zu viel Bedeutung beimessen. Vielleicht handelt es sich nur um einen ganz normalen Einbruch.«
»Das glaubst du nicht im Ernst, oder?«
Sie massierte sich die Schläfen. »Nein, und ich vermute, Ben glaubt das ebenso wenig«, bekannte sie. »Er ist mit mir durch die Praxis gegangen, und uns beiden ist aufgefallen, dass vor dem Fenster keinerlei Fußabdrücke waren. Es hat die ganze Nacht zuvor geregnet, und der Boden war sehr weich.«
»Warum stellst du dann meine Theorie in Frage?«
Sie zuckte mit den Achseln. »Ich möchte einfach nur, dass sich alles schnell aufklärt. Weißt du, was ich als Erstes dachte, als ich mein Büro gesehen habe?«
»Was?«
»Dass mich jemand abgrundtief hasst. Das hat mich am meisten erschreckt«, sagte sie. »Ich habe mir das Gehirn zermartert, wer das sein könnte, aber ich bin noch nicht lange wieder hier, wie soll ich mir in der kurzen Zeit Feinde gemacht haben? Lass mir ein paar Monate Zeit, dann habe ich eine Liste, die so lang ist wie mein Arm.«
»Das bezweifle ich«, sagte Theo sanft. »Der Mann hat in deinem Büro offensichtlich die Beherrschung verloren. Noah wird bestimmt etwas dazu einfallen.«
Er steckte sich noch einen Zwieback in den Mund. Mit etwas Frischkäse oder Erdnussbutter wären sie nicht so trocken gewesen wie Sägemehl, aber er aß sie auch so.
»Männer wie Noah fangen also Kriminelle und sperren sie ein?«
»So ungefähr.«
»Dann brauchst du dir wenigstens keine Sorgen über Typen zu machen, die auf dich schießen.«
»Stimmt.« Diese hastige Bestätigung war natürlich eine Lüge. Während seiner Arbeit hatte man auf ihn geschossen, ihn getreten, gebissen, geschlagen und angespuckt. Man hatte sogar einen Killer auf ihn angesetzt, und als er Leons Familie verfolgte, hatte er täglich Drohungen erhalten.
»Ich habe eine Theorie«, sagte Michelle.
»Lass hören!« Er wühlte in der Schachtel und brachte das letzte Stück Zwieback zum Vorschein.
»Einer von Dr. Robinsons Patienten wollte seine Krankenunterlagen stehlen.«
»Was für einen Grund könnte es dafür geben?«
»Ich weiß nicht. Vielleicht hat er eine ansteckende Krankheit oder irgendetwas, das die Versicherung oder seine Familie nicht erfahren soll. Ich
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