Gnade
weiß, das ist weit hergeholt, aber es ist das Einzige, das mir dazu einfällt. Warum sollte sonst jemand die Akten aus den Schränken und Kisten zerren?«
»Hat Robinson dir eine Liste seiner Patienten gegeben?«
»Ja. Ein Ausdruck steckte in einem wattierten Umschlag, den er an eine der Kisten geklebt hat. Er unterhielt keine große Praxis, obwohl er ziemlich lange hier gearbeitet hat. Nach allem, was ich gehört habe, hätte Dr. Robinson einen Fortbildungskurs in Einfühlungsvermögen gut brauchen können. Er hat seine Patienten regelmäßig vor den Kopf gestoßen.«
»Und deshalb hatte er nur wenige Patienten.«
»Genau.«
»Sobald sich Noah alles angesehen und uns verraten hat, was er denkt, solltest du die Kartei mit der Patientenliste abgleichen und nachprüfen, wessen Papiere fehlen.«
»Vorausgesetzt, dass die Liste nicht völlig zerfetzt ist.«
Theo nickte. »Ich finde, du solltest Robinson anrufen und ihn fragen, ob er schwierige Patienten hatte oder … Du weißt wohl am besten, welche Fragen du ihm stellen musst.«
»Ja, gut. Vielleicht hat er auch noch eine Kopie der Liste, falls wir eine brauchen.«
Er sah, dass sich Michelle den Nacken rieb. »Hast du Rückenschmerzen?«
»Ja, ein bisschen.«
»Vielleicht kann ich etwas dagegen tun.«
Theo stand auf und gesellte sich zu ihr aufs Sofa. Dann legte er ein Kissen auf den Boden zwischen seine Füße und wies sie an, sich darauf zu setzen, damit er ihr die verspannten Schultern massieren konnte.
Das Angebot war unwiderstehlich. Michelle machte es sich zwischen seinen Knien bequem und streckte die Beine aus. Er legte die Hände auf ihre Schultern, nahm sie aber gleich wieder weg.
»Zieh den Bademantel aus.«
Sie öffnete die Knöpfe, knotete den Gürtel auf und schlüpfte aus dem Mantel.
»Und jetzt das Pyjamaoberteil.«
»Guter Versuch!«
Er grinste. »Okay, dann mach wenigstens die oberen Knöpfe auf.«
Sie musste drei Knöpfe öffnen, damit er seine Hände unter den Stoff schieben konnte. Seine großen, warmen Hände berührten ihre bloße Haut, und es fühlte sich wunderbar an!
»Deine Haut ist so weich …«
Michelle schloss die Augen und genoss die sanften Bewegungen seiner Hände. Ich müsste ihm jetzt sagen, dass er aufhören soll, dachte sie. Es war verrückt! Theo war der Grund, warum sie so verspannt war, und jetzt machte er alles auf solch wunderbare Art noch schlimmer. Sie sollte ihm wirklich Einhalt gebieten. Doch stattdessen legte sie den Kopf auf die Seite, damit er die Verspannung am Hals besser massieren konnte.
»Weißt du, was ich dachte, als ich dich zum ersten Mal sah?«
»Dass ich unwiderstehlich bin!«, zog sie ihn auf. »So unwiderstehlich, dass du mich ankotzen musstest.«
»Daran wirst du mich wohl immer wieder erinnern, was?«
»Wahrscheinlich.«
»Zu dem Zeitpunkt war ich verrückt vor Schmerzen«, rief er ihr ins Gedächtnis. »Und davon spreche ich auch gar nicht. Ich meine, als du nach der Operation in mein Zimmer kamst und mir von Bowen, deiner Praxis und den Menschen erzählt hast, die hier leben. Weißt du, was ich damals dachte?«
»Du hast dir gewünscht, dass ich aufhöre zu reden, damit du endlich schlafen kannst, oder etwa nicht?«
Theo zupfte an ihrem Haar. »Hey, ich meine es ernst! Ich will dir gerade offenbaren, warum ich wirklich nach Bowen gekommen bin.« Sein Tonfall verriet, dass er nicht zu Scherzen aufgelegt war.
»Entschuldige! Also, was hast du gedacht?«
»Dass ich dich beneide«, sagte er und schwieg einen Moment lang. »Ich sah etwas in dir lodern, das ich einst auch hatte. Als ich anfing in meinem Beruf zu arbeiten. Aber es ist auf der Strecke geblieben. Das ist mir nie bewusst gewesen, bis ich dich kennen gelernt habe. Seitdem will ich es zurückgewinnen, falls das überhaupt möglich ist.«
»Und was ist das?«
»Leidenschaft.«
Michelle verstand nicht gleich, was er meinte. »Leidenschaft für meine Arbeit?«
»Die Leidenschaft, etwas bewirken zu wollen.«
Sie überlegte einen Moment lang. »Ich will die Welt nicht verändern, Theo. Ich hoffe lediglich, dass ich in einem kleinen Winkel der Welt etwas erreichen kann.« Sie kniete sich hin und drehte sich zu ihm um, damit sie ihn ansehen konnte. »Du glaubst also nicht, dass du etwas bewirkst?«, fragte sie ein wenig erstaunt.
»O doch, das schon«, entgegnete er. »Ich habe nur den Enthusiasmus für meinen Job verloren. Ich weiß nicht, was mit mir nicht stimmt. Die Männer, die ich hinter Schloss und Riegel
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