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Gnadenfrist

Titel: Gnadenfrist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Higgins Clark
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112 hinunter. Auf der Eisentreppe bekamen ihre Schritte ein hell klingendes Echo. Das Stimmengemurmel blieb zurück, ebenso die Wärme des Bahnhofs; statt dessen wehte ihnen ein feuchtkalter Luftzug entgegen.
    Der Bahnsteig lag verlassen da.
    »Hier herum.« Er zwang sie, schneller zu gehen, um den Bahnsteigkopf, wo das Gleis endete, herum und eine weitere Rampe hinab. Irgendwo in der Nähe tropfte Wasser. Wohin gingen sie? Durch die dunkle Brille konnte sie kaum etwas sehen. Ein rhythmisches Klopfen… eine Pumpe, eine Luftdruckpumpe… Sie stiegen in die Unterwelt des Bahnhofs hinab. Was hatte er mit ihnen vor? Sie hörte das Dröhnen fahrender Züge… Hier mußte irgendwo ein Tunnel sein…
    Die Betonrampe führte noch immer bergab. Dann verbreiterte sich der Durchgang. Sie befanden sich in einem Keller, halb so groß wie ein Fußballfeld, mit dicken Rohren und Schächten und brummenden Motoren. Zu ihrer Linken, ungefähr sieben Meter entfernt, befand sich eine schmale Stiege.
    »Dort hinüber. Beeil dich.« Er atmete rauh und stoßweise. Sie hörte ihn keuchen, als er hinter ihr die Treppe hinaufstieg. Unbewußt zählte sie die Stufen: zehn… elf… zwölf. Sie erreichten einen schmalen Treppenabsatz und standen vor einer schweren Eisentür.
    »Mach Platz.« Sie zuckte zurück, als er sie mit seinem schweren Körper beiseite schob. Er stellte den Sack ab und warf ihr einen raschen Blick zu. Schweißperlen glänzten auf seiner Stirn. Er zog einen Schlüssel hervor und steckte ihn ins Schloß. Ein Knirschen, dann gab der Griff nach. Er stieß die Tür auf und schob sie vor sich her in einen muffigen dunklen Raum.
    Sie hörte ihn grunzen, als er den Sack wieder aufhob. Die Tür schloß sich hinter ihm, dann vernahm sie das Schnappen eines Schalters.
    Eine halbe Sekunde lang geschah nichts, dann ging flimmernd eine Leuchtröhre über ihr an.
    Sharon sah sich in dem schmutzigen, feuchten Raum um; zwei rostige Spülbecken, ein mit Brettern vernagelter Schacht; eine durchgelegene Pritsche, eine umgekippte Apfelsinenkiste, ein alter schwarzer Koffer.
    »Wo sind wir? Was haben Sie mit uns vor?« Obwohl sie nur im Flüsterton sprach, hallte ihre Stimme in diesem verliesartigen Raum.
    Ihr Entführer antwortete nicht. Er stieß sie weiter in den Raum hinein zu dem Feldbett hin.
    Er legte den Sack auf das Bett, dann beugte und streckte er die Arme. Sharon sank auf die Knie und versuchte nervös, den Zugverschluß des Sackes zu öffnen. Endllich hatte sie den Knoten gelöst, die Schnur gelockert. Sie legte den Sack der Länge nach aufs Bett und griff nach der kleinen zusammengekrümmten Gestalt. Sie befreite Neils Kopf. Wie wahnsinnig zerrte sie an dem Knebel, bis es ihr endlich gelang, ihn herunterzuziehen. Neil keuchte und rang nach Luft; er atmete rauh und schluchzend. Sie vernahm das Pfeifen in seinem Atem, fühlte das Stoßen in seiner Brust. Sie bettete seinen Kopf in ihren Arm und wollte ihm die Augenbinde abnehmen.
    »Laß das!« fuhr er sie heftig an.
    »Bitte«, rief sie, »er ist krank! Er bekommt gleich einen Asthmaanfall. Helfen Sie ihm!«
    Sie wandte ihm ihr Gesicht zu, dann biß sie sich auf die Lippen, um nicht loszuschreien.
    Über dem Feldbett klebten drei riesengroße Bilder an der Wand…
    Eine junge Frau flüchtete. Sie rannte mit ausgestreckten Händen und schaute mit einem vor Grauen entstellten Gesicht über die Schulter zurück; ihr Mund war weit geöffnet, als würde sie schreien.
    Eine blonde Frau neben einem Wagen, die Beine unter dem Körper eingeknickt.
    Ein dunkelhaariges Mädchen, die Hand an die Kehle gehoben, einen verwunderten, losgelösten Blick in den starren Augen.
13
    Vor vielen Jahren war Lally Lehrerin in Nebraska gewesen. Sie war alleinstehend. Nach ihrer Pensionierung kam sie zu Besuch nach New York. Sie kehrte nie wieder nach Nebraska zurück.
    Der Abend ihrer Ankunft in der Grand Central Station wurde zum Wendepunkt ihres Lebens. Verwirrt und eingeschüchtert trug sie ihren einzigen Koffer durch die riesige Bahnhofshalle und sah sich vorsichtig um. Als ihr Blick nach oben wanderte, blieb sie plötzlich stehen. Als eine von wenigen hatte sie sofort bemerkt, daß das Firmament auf der Innenseite der großen Bahnhofskuppel verkehrt herum aufgemalt war. Die Sterne des Ostens befanden sich im Westen.
    Sie lachte laut auf. Ihre Lippen teilten sich, und zwei sehr große Schneidezähne kamen zum Vorschein. Die Menschen warfen ihr einen kurzen Blick zu und eilten weiter. Sie war entzückt

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