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Gnadenfrist

Titel: Gnadenfrist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Higgins Clark
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begeistert. Die feuchten, abblätternden Wände störten sie nicht im geringsten. Der Raum war groß. Licht und Wasserleitung funktionierten. Es gab sogar ein Kabüffchen mit einer Toilette. Sie hatte sofort erkannt, daß dieser Ort ihr einziges bleibendes Bedürfnis, hin und wieder allein zu sein, befriedigen würde.
    »Zimmer mit Bad«, hatte sie gesagt. »Rusty, laß mich hier schlafen.«
    Erschrocken sah er sie an. »Auf keinen Fall. Es würde mich meinen Job kosten.« Aber sie hatte ihn auch hier mürbe gemacht, und so ließ er sie von Zeit zu Zeit hier eine Nacht verbringen. Dann war es ihr eines Tages gelungen, sich für ein paar Stunden den Schlüssel von ihm zu borgen, und sie hatte sich heimlich einen Zweitschlüssel anfertigen lassen. Als Rusty in Pension ging, zog sie fest ein.
    Stück für Stück trug sie ihre Einrichtung zusammen - ein klappriges Feldbett, eine klumpige Matratze, eine Apfelsinenkiste.
    Und dann begann sie, sich regelmäßig hier aufzuhalten. In der mutterleibartigen Dunkelheit, im tiefsten Inneren ihres Bahnhofs verborgen zu schlafen, das schwache Brausen und Dröhnen der Züge zu hören, das immer seltener wurde, je weiter die Nacht vorrückte, und dann wieder anstieg bis zur Hektik des Hauptverkehrs in den Morgenstunden - das gefiel ihr am besten.

    Manchmal, wenn sie dort lag, dachte sie daran, wie sie mit ihren Schülern den Roman >Das Phantom der Oper< besprochen hatte. »Und unter diesem herrlichen, vergoldeten Opernhaus gab es noch eine andere Welt«, hatte sie ihnen erklärt, »eine dunkle und geheimnisvolle Welt, eine feuchte Welt mit schmalen Gängen und Abwasserkanälen, wo sich ein Mensch vor jedermann verstecken konnte.«
    Die einzige Wolke, die ihren Himmel trübte, war die nagende Furcht, man könnte ihren Bahnhof eines Tages abreißen. Sie besuchte jede Versammlung des Komitees zur Rettung von Grand Central; unauffällig stand sie in einer Ecke, aber sie applaudierte laut, wenn Prominente wie Jackie Onassis sagten, Grand Central sei ein Stück New Yorker Tradition und sollte niemals der Zerstörung preisgegeben werden.
    Zwar hatte man den Bahnhof inzwischen zum historischen Bauwerk erklärt, aber Lally wußte, daß es immer noch genug Leute gab, die auf einen Abbruch hinarbeiteten.
    Im Winter benützte sie ihr Zimmer nie. Dazu war es zu kalt und zu feucht. Aber von Mai bis September übernachtete sie hier ungefähr zweimal die Woche, jedenfalls selten genug, so daß die Polizisten nicht auf sie aufmerksam wurden und Rosie keine Fragen stellte.
    So vergingen sechs Jahre, die besten Jahre in Lallys Leben. Sie kannte allmählich sämtliche Aufseher, die Zeitungsverkäufer, und Schalterbeamten. Sie kannte die Gesichter der Pendler, wußte, wer welchen Zug nahm. Sie kannte schließlich sogar die Gesichter der Trinker, die meistens auf unsicheren Beinen zu den Bahnsteigen hasteten, um mit den letzten Zügen nach Hause zu fahren.
    An jenem Montagabend traf Lally ihre Freundin Rosie im großen Wartesaal. Sie hatte den ganzen Winter über schwer unter Arthritis gelitten. Allein aus diesem Grund war sie nicht in ihr Zimmer gegangen. Sechs Monate war sie nicht mehr dort gewesen, und plötzlich meinte sie, sie könnte es nicht mehr erwarten, endlich wieder einmal dort zu übernachten. »Ich werde nur nachsehen, wie es aussieht«, dachte sie. Vielleicht, wenn es nicht zu kalt würde, konnte sie heute nacht sogar dort schlafen.
    Schwerfällig stieg sie die Treppe zum unteren Bahnhof hinab. Sie wanderte gemächlich zwischen den wenigen Menschen umher, die sich um diese Zeit hier aufhielten und schaute vorsichtig nach Polizisten aus. Sie konnte nicht riskieren, daß jemand sie zu ihrem Zimmer gehen sah. Sie würden sie niemals dort bleiben lassen, auch nicht die netteren von den Jungs.
    Sie beobachtete eine Familie mit drei kleinen Kindern. Sie sahen nett aus, alle miteinander.
    Sie mochte Kinder und war auch eine gute Lehrerin gewesen. Sobald sich die Schüler an ihr hausbackenes Aussehen gewöhnt hatten, war sie gewöhnlich gut mit ihnen ausgekommen.
    Dennoch wünschte sie sich diese Zeit nicht zurück, nicht um alles in der Welt.
    Sie schlenderte über die Rampe zum Bahnsteig 112 als ihr Blick auf einen alten grauen Wollmantel fiel, unter dem ein ausgefranstes lila Futter hervorlugte.
    Lally erkannte den Mantel wieder. Sie hatte ihn eine Woche zuvor in einem Second-hand-Shop in der Second Avenue anprobiert. Es konnte denselben Mantel nicht noch einmal geben
    - nicht mit diesem

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