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Gnadenfrist

Titel: Gnadenfrist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Higgins Clark
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steifen Arm- und Beinmuskeln schmerzten. Sie taumelte, wurde grob festgehalten.
    »Zieh das an!« Die Stimme klang verändert, drängte zur Eile.

    Sie hob den Arm, faßte in unsauberen, groben Stoff… Es war der Mantel, den er über sie geworfen hatte. Er zog ihr den Mantel über und steckte ungeduldig ihren anderen Arm in den Ärmel.
    »Binden Sie dieses Kopftuch um!«
    Es fühlte sich genauso schmutzig an. Sie versuchte, es zu falten. Es war so dick und wollig.
    Irgendwie schafften es ihre Finger, es unter dem Kinn zu binden.
    »Steig wieder ein. Je schneller du dich bewegst, um so eher wird der Junge den Knebel los.«
    Unsanft stieß er sie auf den Beifahrersitz. Der Khakisack lag auf dem Boden. Sie stolperte fast darüber, versuchte, nicht mit ihren Stiefeln dagegenzutreten. Sie beugte sich vor, betastete den Sack und fühlte die Konturen von Neils Kopf. Die Zugschnur des Sacks war lose. Wenigstens bekam Neil Luft. »Neil, Neil, ich bin hier. Bald wird alles gut, Neil…«
    Hatte er sich bewegt? O Gott, laß ihn nicht ersticken. Der Fremde rannte um den Wagen herum, warf sich auf den Fahrersitz und ließ den Motor an. Vorsichtig fuhr er los.
    Wir sind mitten in der Stadt! Diese Erkenntnis traf sie wie ein Schlag, half ihr aber, sich wieder zu fassen. Sie mußte ruhig sein. Sie mußte alles tun, was dieser Mann befahl. Sie näherten sich dem Broadway. Sharon sah die große Uhr am Times Square. Zwanzig Minuten nach sieben… Es war erst sieben Uhr zwanzig.
    Gestern abend um diese Zeit war sie eben aus Washington zurückgekommen. Sie hatte geduscht, Koteletts in den Ofen geschoben und einen Chablis getrunken, während sie auf das Essen wartete. Sie war müde gewesen und gereizt und hatte versucht, sich zu entspannen, bevor sie sich hinsetzte, um ihren Artikel zu schreiben.
    Und sie hatte an Steve gedacht. Daß sie ihn im Lauf der drei Wochen, die sie nun getrennt waren, allmählich schmerzhaft vermißte.
    Dann hatte er angerufen. Der Klang seiner Stimme ließ ein merkwürdiges Gefühl in ihr aufkommen, eine Mischung aus Freude und Angst. Aber er hatte sich kurz gefaßt, beinahe unpersönlich. »Hallo… wollte mich nur vergewissern, daß du gut angekommen bist. Wie ich höre, war schlechtes Wetter in Washington; es soll jetzt auch zu uns kommen. Ich seh’ dich im Studio.« Dann hatte er eine Pause eingelegt und hinzugefügt: »Ich habe dich vermißt. Vergiß nicht, daß du morgen abend bei uns erwartet wirst.«
    Nachdem sie aufgelegt hatte, sehnte sie sich noch mehr nach einem Wiedersehen mit ihm; trotzdem fühlte sie sich irgendwie niedergeschlagen und beunruhigt. Was wollte sie eigentlich wirklich? Was würde er denken, wenn er nach Hause kam und feststellte, daß sie nicht da waren! Oh, Steve!
    In der Sixth Avenue schaltete die Ampel auf Rot. Ein Streifenwagen hielt direkt neben ihnen. Sharon beobachtete, wie sich der junge Fahrer die Schirmmütze aus der Stirn schob. Er blickte aus dem Fenster, und ihre Augen trafen sich. Sharon merkte, wie der Wagen wieder anfuhr, aber sie starrte den Polizisten unablässig an, damit er weiter zu ihr hinsah und vielleicht merkte, daß etwas nicht stimmte.
    Ein scharfer Stoß in der Seite zwang sie, die Augen zu senken. Der Fremde hatte das Messer in der Hand. »Wenn er uns jetzt folgt, erwischt es dich zuerst«, sagte er. »Für den Jungen hab’
    ich dann immer noch Zeit.«
    Eiskalte Sachlichkeit lag in seinem Ton. Der Streifenwagen fuhr unmittelbar hinter ihnen.
    Das Blaulicht blinkte auf. Die Sirene heulte. »Nein! Bitte!…« Mit röhrendem Motor scherte das Polizeifahrzeug aus, schoß an ihnen vorbei und verschwand hinter dem nächsten Häuserblock.
    Sie bogen nach Süden in die Fifth Avenue ein. Es waren kaum noch Fußgänger unterwegs.
    Wer hatte schon Lust, bei diesem eisigen, stürmischen Wetter in New York zu flanieren?
    Der Wagen schwenkte in die 44. Straße ein. Wohin brachte er sie nur? Die 44. Straße war keine Durchgangsstraße. Sie endete an der Grand Central Station. Wußte er das nicht?

    Der Fremde fuhr zwei Häuserblocks weiter zur Vanderbilt Avenue und wandte sich nach rechts. In der Nähe des Eingangs zum Biltmore Hotel, unmittelbar gegenüber dem Bahnhof, hielt er an.
    »Wir steigen hier aus«, sagte er leise. »Wir gehen in den Bahnhof. Bleib immer neben mir, und versuch keine Geschichten. Ich werde den Sack tragen, und wenn irgend jemand auf uns aufmerksam wird, kriegt der Junge das Messer.« In seinen Augen glomm wieder dieses Flackern, als er auf

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