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Gnadenfrist

Titel: Gnadenfrist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Higgins Clark
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Futter. Ihre Neugier erwachte. Sie sah sich das Gesicht der Frau, die den Mantel trug, genau an und war überrascht, wie jung und hübsch sie hinter ihrer dunklen Brille war.
    Ihr Begleiter… Er war jemand, den Lally erst kürzlich in der Bahnhofsgegend gesehen hatte.
    Lally fielen auch die teuren Lederstiefel auf, die das Mädchen anhatte; so etwas trugen meistens Leute, die mit den Connecticutzügen reisten.
    Eine merkwürdige Zusammenstellung, dachte sie. Ein Mantel aus zweiter Hand und dann solche Stiefel. Da ihre Aufmerksamkeit jetzt vollends geweckt war, schaute sie den beiden nach. Der Segeltuchsack, den der Mann trug, schien ziemlich schwer zu sein. Als die beiden zum Bahnsteig 112 hinuntergingen, runzelte sie die Stirn. Der nächste Zug fuhr erst in ungefähr einer halben Stunde. Verrückt, dachte sie. Warum wollen sie bei dieser Nässe und Kälte auf dem Bahnsteig warten?

    Sie zuckte die Achseln. Das wär’s dann also. Solange die zwei auf dem Bahnsteig standen, konnte sie nicht in ihr Zimmer gehen. Dann mußte sie eben bis morgen warten.
    Philosophisch ging Lally über die Enttäuschung hinweg und begab sich auf der Suche nach Rosie in den großen Wartesaal.

14
    »Rede, Ron, verdammt noch mal, rede!« Der dunkelhaarige Rechtsanwalt drückte die Aufnahmetaste des Kassettenrecorders, der zwischen den beiden jungen Männern lag, die auf dem Bett saßen.
    »Nein!« Ron erhob sich und starrte durch das vergitterte Fenster. Er wandte sich schnell wieder ab. »Sogar der Schnee sieht hier schmutzig aus«, sagte er, »schmutzig, grau und kalt.
    Willst du das aufnehmen?«
    »Nein.« Bob Kurner stand auf und legte die Arme auf die Schultern des Jungen. »Ron, bitte…«
    »Wozu? Wozu?« Die Lippen des Neunzehnjährigen zitterten. Sein Gesicht nahm einen anderen Ausdruck an; man sah, wie jung und wehrlos er war. Er preßte die Lippen zusammen und fuhr sich mit der Hand über die Augen. »Bob, du hast dein Bestes getan. Ich weiß, daß du alles versucht hast. Aber es gibt nichts mehr, das irgend jemand noch für mich tun könnte…«
    »Außer der Gouverneurin einen Grund für ein Gnadenurteil zu liefern - oder auch nur für einen Aufschub, wenigstens einen Aufschub, Ron.«
    »Aber du hast es doch versucht! Und wenn es diese Journalistin mit all den Prominentenunterschriften nicht geschafft hat…«
    »Zum Teufel mit dieser Sharon Martin!« Bob Kurner ballte die Fäuste. »Zum Teufel mit all diesen Humanitätsaposteln, die von praktischen Dingen keine Ahnung haben. Sie hat alles vermurkst. Wir hatten eine Petition vorbereitet, eine echte Petition, an der sich Menschen beteiligt hatten, die dich kennen, die wissen, daß du keinem etwas zuleide tun kannst. Und da schreit sie im ganzen Land herum, daß du selbstverständlich schuldig bist, nur eben nicht sterben solltest. Sie hat es der Gouverneurin unmöglich gemacht, deine Strafe zu mildern.«
    »Warum verschwendest du dann noch deine Zeit? Wenn es keinen Sinn hat, wenn es hoffnungslos ist… Ich will nicht mehr darüber reden!«
    »Aber du mußt!« Bob Kurners Stimme wurde sanfter, als er dem jüngeren Mann in die Augen blickte. Es waren bezwingend offene und aufrichtige Augen. Bob dachte an die Zeit, als er selbst neunzehn gewesen war. Vor zehn Jahren studierte er gerade im zweiten Semester in Villanova. Ron hatte vorgehabt, aufs College zu gehen… Und jetzt sollte er auf dem elektrischen Stuhl sterben. Seinem muskulösen Körper hatten nicht einmal die zwei Jahre Gefängnis etwas anhaben können. Ron machte regelmäßig Gymnastik in seiner Zelle. Er war ein ungemein disziplinierter Junge. Allerdings hatte er zwanzig Pfund abgenommen, und sein Gesicht war weiß wie die Wand.
    »Hör zu«, sagte Bob, »Es muß irgendwo etwas geben, das ich übersehen habe…«
    »Du hast nichts übersehen.«
    »Ron, ich habe dich verteidigt, und du hast Nina Peterson nicht getötet; trotzdem wurdest du schuldig gesprochen. Wenn wir nur ein einziges Beweisstück finden können, um es der Gouverneurin vorzulegen, einen einzigen triftigen Grund, um ihr die Möglichkeit zu einem Aufschub zu geben. Wir haben zweiundvierzig Stunden Zeit - nur noch zweiundvierzig.«
    »Du hast gerade gesagt, sie würde mein Urteil nicht abändern.«
    Bob Kurner beugte sich über den Kassettenrecorder und schaltete ihn ab. »Ron, vielleicht sollte ich dir das nicht sagen. Es ist nur eine vage Hoffnung. Aber hör zu. Als man dich wegen des Mordes an Nina Peterson verurteilte, glaubten eine Menge Leute, du

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