Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Gnadenfrist

Titel: Gnadenfrist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Higgins Clark
Vom Netzwerk:
über diese Reaktion. Wenn man Lally zu Hause plötzlich dastehen und lachen gesehen hätte, wäre es am nächsten Tag in der ganzen Stadt bekannt gewesen. Sie verschloß ihren Koffer in einem Schließfach und begab sich in den Waschraum für Damen in der Hauptebene. Sie machte sich frisch, strich sich den formlosen braunen Wollrock glatt und knöpfte die dicke Strickjacke ordentlich zu. Dann kämmte sie ihr kurzes Haar, daß es wie angeklebt um ihr breites, kinnloses Gesicht lag.
    In den folgenden sechs Stunden besichtigte sie den Bahnhof. Sie freute sich wie ein Kind über die unablässig vorübereilende, geschäftige Menschenmenge. In einer der kleinen preiswerten Imbißbars aß sie im Stehen zu Mittag. Dann machte sie einen Schaufensterbummel in den Passagen, die zu den Hotels führten, und setzte sich schließlich in den großen Wartesaal, um auszuruhen.
    Fasziniert beobachtete sie eine junge Mutter, die ihr weinendes Baby stillte; sie starrte wie gebannt auf ein junges Paar, das sich leidenschaftlich umarmte, und beobachtete vier Männer beim Kartenspiel.
    Der Menschenstrom unter den Sternbildern der Kuppel ebbte ab, schwoll wieder an und verlief sich erneut. Es war beinahe Mitternacht, als ihr auffiel, daß eine kleine Gruppe länger geblieben war; sechs Männer und eine winzige Frau, die etwas von einem Vogel an sich hatte, hockten beieinander und unterhielten sich mit der gezwungenen Kameradschaftlichkeit von alten Freunden.
    Die Frau schien bemerkt zu haben, daß Lally sie beobachtete, und kam zu ihr herüber. »Bist du neu hier?« fragte sie mit einer heiseren, aber freundlichen Stimme. Kurz zuvor hatte Lally gesehen, wie diese Frau aus einem Abfallkorb eine Zeitung gefischt hatte.
    »Ja«, antwortete sie.
    »Hast du irgendwo ‘ne Bleibe?«

    Lally hatte eine Zimmerreservierung im Y, aber irgendein Instinkt zwang sie zu lügen.
    »Nein.«
    »Bist du erst seit heute hier?« »Ja.«
    »Hast du Geld?« »Nicht viel.« Auch das war gelogen.
    »Naja, mach dir mal keine Sorgen. Wir zeigen dir alles. Wir sind nämliche Stammgäste«, sagte sie und wies dabei auf die Gruppe im Hintergrund.
    »Dann wohnen Sie hier in der Nähe?« fragte Lally. Ein Lächeln zuckte um die Augen der Frau und enthüllte ihre schlechten Zähne. »Nein, wir wohnen hier. Ich heiße Rosie Bidwell.«
    In all den zweiundsechzig Jahren ihres freudlosen Lebens hatte Lally noch nie eine wirkliche Freundin gehabt. Rosie Bidwell änderte das. Lally wurde bald in den Kreis der Stammgäste aufgenommen. Sie befreite sich von ihrem Koffer und verstaute all ihre Habe genau wie Rosie in Plastiktüten. Sie lernte den üblichen Tagesablauf kennen, trödelte über billige Mahlzeiten im Automatenrestaurant, ging gelegentlich zum Duschen in das öffentliche Bad im Village, schlief in Pennerherbergen oder bei der Heilsarmee. Oder - in ihrem eigenen Zimmer im Grand Central.
    Das war Lallys einziges Geheimnis, das sie Rosie nicht anvertraute. Als unermüdliche Entdeckerin hatte sie jeden Winkel des Bahnhofs ausgekundschaftet. Sie war die Treppen hinter den orangegestrichenen Türen auf den Bahnsteigen hinaufgestiegen und in dem düsteren Areal zwischen dem Boden der oberen und dem Plafond der unteren Bahnhofsebene umherspaziert. Sie fand die versteckte Treppe, die die beiden Damenwaschräume verband, und wenn die untere gelegentlich wegen Reparaturarbeiten geschlossen war, schlüpfte sie über diese Treppe hinunter und schlief dort, ohne daß es jemand merkte.
    Sie ging sogar in den Tunnel, der unter der Park Avenue verlief, und teilte ihr Essen mit den hungrigen Katzen, die dort umherstrichen; wenn ein Zug vorüberdonnerte, drückte sie sich flach an die Betonmauer.
    Aber besonders fasziniert war sie von der Unterwelt des Bahnhofs; die Bahnhofsaufseher nannten diese Gegend Sing-Sing. Mit den Pumpen, Ventilatoren, Luftschächten und Generatoren, die klopften und ächzten und stöhnten, erschien ihr dies hier als ein Teil des eigentlichen Pulsschlags ihres Bahnhofs. Eine nicht gekennzeichnete Tür am oberen Ende einer schmalen Treppe in Sing-Sing interessierte sie besonders. Vorsichtig hatte sie einmal bei einem Wachmann, der gut Freund mit ihr geworden war, diese Tür erwähnt. Rusty hatte erklärt, dahinter befände sich nur das elende Loch, in dem sie früher für die Oyster Bar das Geschirr gespült hatten, und sie hätte in dem Gebiet nichts zu suchen. Aber schließlich hatte sie ihn doch dazu bewegen können, ihr diesen Raum zu zeigen.
    Sie war hellauf

Weitere Kostenlose Bücher