Gnadenfrist
Sharon hinabblickte. Eine Ader pochte in seiner Wange. »Verstanden?«
Sie nickte. Ob Neil ihn hören konnte?
»Warte einen Moment.« Er ließ sie nicht aus den Augen, als er in das Handschuhfach griff und eine Sonnenbrille hervorholte. »Setz sie auf.«
Er stieß die Tür auf, sah sich um und stieg aus. Die Straße war menschenleer. Nur einige Taxis warteten am Taxistand vor dem Bahnhof. Kein Mensch weit und breit, der sie sehen oder gar beachten würde…
Er bringt uns zu einem Zug, dachte Sharon. Wir werden meilenweit fort sein, bevor jemand die Suche nach uns aufnimmt.
Sie fühlte ein leichtes Brennen an ihrer linken Hand. Der Ring! Der antike Mondsteinring, den ihr Steve zu Weihnachten geschenkt hatte - er hatte sich zur Seite gedreht, als ihre Hände gefesselt waren. Die erhabene Goldfassung hatte ihren Finger verletzt. Fast gedankenlos zog sie den Ring ab und hatte gerade noch Zeit, ihn zwischen die Polster zu stopfen, bevor er die Wagentür aufhielt.
Leicht schwankend stieg sie aus und betrat den glitschigen Fußweg. Der Mann packte sie am Handgelenk und sah sich sorgfältig im Wagen um. Er beugte sich rasch vor und hob den Knebel auf, den sie im Mund gehabt hatte, sowie die Schnurenden ihrer durchschnittenen Fesseln. Sharon hielt den Atem an. Aber er bemerkte den Ring nicht.
Dann nahm er den Sack auf, straffte die Zugschnur und band sie zur Schleife. In dem geschlossenen Sack konnte Neil ersticken.
»Sieh her.« Sie starrte auf die Klinge in seiner Hand; sie war unter dem weiten Ärmel seines Überziehers fast nicht zu sehen. »Sie ist genau auf sein Herz gerichtet. Wenn du etwas versuchst, ist es aus mit ihm.«
Er nahm sie am Ellenbogen und zwang sie, im gleichen Schritt mit ihm die Straße zu überqueren. Ein Mann und eine Frau flüchteten sich aus der Kälte in den Bahnhof, in ihrer schäbigen Kleidung kaum zu beschreiben, unscheinbar in jeder Hinsicht; anstelle eines Koffers hatten sie einen Khakisack bei sich.
Die helle Beleuchtung des Bahnhofs blendete Sharon trotz ihrer dunklen Sonnenbrille. Sie standen nun in der Haupthalle, die einen Ausblick über den größten Teil des Bahnhofs bot.
Nur ein paar Schritte links von ihnen befand sich ein Zeitungskiosk. Der Verkäufer schaute völlig gleichgültig in ihre Richtung. Sie stiegen die Treppe zur ersten Etage hinab. Sharons Blick fiel auf die riesige Kodak-Reklame »Halte Schönheit gefangen, wo du sie findest…«
Nur mühsam unterdrückte sie ein hysterisches Lachen. Gefangengehalten? Plötzlich fiel ihr die Uhr ein. Die berühmte Uhr über dem Informationsschalter in der Mitte des Bahnhofs. Seit man den Investmentbüroschalter davor gebaut hatte, war sie nicht mehr so gut zu sehen.
Sharon hatte irgendwo gelesen, wenn die sechs roten Lichter an ihrem Sockel aufleuchteten, würden sie der Bahnhofspolizei einen Notfall signalisieren. Wenn die wüßten, was sich hier gerade abspielte…
Die Uhr zeigte sieben Uhr neunundzwanzig. Steve fuhr mit dem Siebenuhrdreißig-Zug. Er war hier in diesem Augenblick, in einem Zug in diesem Bahnhof - in einem Zug, der ihn in einer Minute fortbringen würde. Steve. Sie wollte schreien… Steve…
Stahlharte Finger umklammerten ihren Arm. »Hier hinunter.« Er führte sie die Treppe zum unteren Bahnhof hinab. Die Hauptverkehrszeit war vorbei. Im Haupteil des Bahnhofs befanden sich nur noch wenige Menschen, noch weniger stiegen die Treppe hinab. Sollte sie sich fallen lassen, Aufmerksamkeit erregen? Nein, sie durfte es nicht wagen, nicht, solange dieser Gorillaarm den Sack umschlag und diese Hand das Messer bereithielt, um es in Neils Körper zu stoßen.
Sie erreichten die untere Ebene. Rechts darüber konnte sie den Eingang zur Oyster Bar sehen. Letzten Monat hatte sie sich hier mit Steve zu einem kurzen Mittagessen getroffen. Sie hatten an der Theke gesessen, jeder mit einer dampfenden Schüssel Muschelragout. Steve, finde uns, hilf uns…
Sie wurde angestoßen, nach links zu gehen. »Wir gehen hier entlang. Nicht so schnell…«
Gleis 112. Auf dem Schild stand >Mount Vernon - B. 10. < Anscheinend war hier eben ein Zug abgefahren. Was will er hier?
Links von der Rampe, die zu den Gleisen hinabführte, bemerkte Sharon eine ärmlich gekleidete alte Frau mit einer Einkaufstüte in der Hand. Über einem zerlumpten Wollrock trug sie ein Männerjackett. Ihre Beine steckten in dicken, lose sitzenden Baumwollstrümpfen.
Die Frau schaute sie neugierig an.
»Weitergehen…«
Sie gingen die Rampe zu Bahnsteig
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