Gnadenfrist
die Innenstadt. Er beabsichtigte, aus einer Telefonzelle vor Bloomingdale’s anzurufen. Der Fußmarsch, fünfzehn Blocks entlang der Lexington Avenue, kühlte ihn ab und mäßigte das zitternde Verlangen, das ihn überkommen hatte, als er Sharon küßte. Aber sie begehrte ihn ebenso wie er sie. Das fühlte er.
Wenn der Junge nicht gewesen wäre, hätte er mit Sharon geschlafen. Aber die Augen wären dagewesen, trotz der Binde. Vielleicht war seine Augenbinde sogar durchsichtig. Es schauderte ihn bei dem Gedanken.
Der Schneefall hatte etwas nachgelassen, doch der Himmel hing noch immer voller dunkler grauer Wolken. Er runzelte die Stirn. Es war wichtig, daß die Straßen frei waren, wenn er das Geld abholte.
Er hatte vor, die Perrys anzurufen, und waren sie nicht zu Hause, wollte er es bei Peterson versuchen. Das allerdings konnte gefährlich werden.
Aber er hatte Glück. Mrs. Perry nahm schon beim ersten Klingelzeichen ab. An ihrer Stimme erkannte er, daß sie äußerst nervös war. Wahrscheinlich war Peterson bei den Perrys gewesen, als er feststellte, daß der Junge und Sharon verschwunden waren. Mit der tiefen, rauhen Stimme, die er eingeübt hatte, gab er Mrs. Perry seine Nachricht durch. Nur als sie den Namen nicht verstand, verlor er die Geduld und sprach lauter. Wie unvorsichtig, wie dumm von ihm! Aber vermutlich war sie viel zu aufgeregt, um es zu bemerken.
Behutsam legte er den Hörer auf und lächelte. Sollte Peterson das FBI gerufen haben, war der Apparat an der Exxon-Tankstelle angezapft. Wenn er Peterson morgen dort anrief, würde er ihm sagen, sofort in die Telefonzelle an der nächsten Tankstelle zu fahren. So schnell konnten sie keine neue Leitung anzapfen. In bester Laune verließ er die Telefonzelle vor dem Kaufhaus. Im Eingang zu einem kleinen Modegeschäft stand ein Mädchen. Trotz der Kälte trug sie einen Minirock, weiße Stiefel und eine weiße Pelzjacke, was er attraktiv fand. Sie lächelte ihn an. Ihr dichtes Haar ringelte sich um ihr Gesicht. Sie war jung, nicht älter als achtzehn oder neunzehn, und er gefiel ihr. Das merkte er gleich. Als sie ihn lächelnd ansah, war er dicht davor, auf sie zuzugehen.
Doch dann überlegte er es sich. Zweifellos war sie eine Dirne, zweifellos gefiel er ihr - aber angenommen, sie stand unter polizeilicher Überwachung und sie wurden festgenommen…
Ängstlich sah er sich um. Er hatte gelesen, wie große Pläne durch einen kleinen Fehler zunichte gemacht wurden.
Mit gleichmütiger Miene ging er an dem Mädchen vorbei und gestattete sich nur ein knappes Lächeln, bevor er mit gesenktem Kopf in den eisigen Wind hinaustrat und zum Biltmore zurückkehrte.
Derselbe spöttisch grinsende Nachtportier gab ihm seinen Schlüssel. Da er noch nicht richtig gegessen hatte, bestellte er beim Zimmerservice zwei Hamburger, Pommes frites und Apfelkuchen sowie einige Flaschen Bier. Um diese Zeit bekam er immer Appetit auf Bier.
Gewohnheit, vielleicht.
Während er auf seine Bestellung wartete, nahm er ein Bad. In dem Zimmer da unten war es ekelhaft feucht, kalt und schmutzig gewesen. Nachdem er sich abgetrocknet hatte, zog er den Schlafanzug an, den er sich eigens für diesen Ausflug gekauft hatte, und unterzog seinen Anzug einer sorgfältigen Prüfung. Aber er war noch tadellos.
Er gab dem Zimmerkellner ein großzügiges Trinkgeld. Im Kino machten sie es genauso.
Die erste Flasche Bier leerte er in einem Zug, die zweite trank er zu den belegten Brötchen, die dritte zu den Nulluhr-Nachrichten. In einer Meldung über den jungen Thompson hieß es:
»Mit dem gestrigen Tag verstrich die letzte Möglichkeit, die Vollstreckung des Todesurteils an Ronald Thompson aufzuschieben. Die Hinrichtung findet voraussichtlich, wie geplant, morgen um 11.30 Uhr statt…« Kein Ton über Neil und Sharon. Eine Bekanntgabe der Entführung war das einzige, was er gefürchtet hatte. Irgend jemand hätte dann vielleicht angefangen, zwei und zwei zusammenzuzählen.
Die Mädchen letzten Monat waren ein Fehler gewesen. Es war nur so, daß er nichts dagegen tun konnte. Er war nie mehr in der Gegend umhergefahren. Das war viel zu gefährlich. Aber als er sie über CB hörte… Irgendetwas hatte ihn getrieben, hinzufahren. Der Gedanke an die Mädchen versetzte ihn in heftige Erregung. Rastlos schaltete er das Radio ab. Eigentlich sollte er nicht… es könnte ihn aufregen.
Er mußte es tun.
Aus seiner Jackentasche holte er den teuren Miniaturrecorder und die Kassetten, die er stets bei
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