Gnadenfrist
Arica hatte Balbinus sogar auf den Rücken geklopft, als ob er seinen zur Armee eingezogenen Vetter verabschiedete. Martinus sagte immer, was er dachte.
»Höflichkeit schadet doch nicht.« Die Sechste hatte Balbinus überwacht, seit er vor Gericht gestellt worden war. Persönliche Kontakte hatten sich daher nicht vermeiden lassen.
Die Männer der Sechsten zogen sich nun zurück, da sie uns ihre Last übergeben hatten. So wie Petronius Longus sie beim Händeschütteln mit dem Verbrecher beobachtet hatte, tat er nicht länger so, als handele es sich hier um eine gemeinsame Mission. Seine übliche umgängliche Art war verflogen; ich hatte ihn noch nie so ernst gesehen. Der restliche Höhepunkt des Schauspiels gehörte ihm und der Vierten. Nachdem sich die Sechste formell verabschiedet hatte, verschwand sie rasch von der Bildfläche.
Ich sagte nichts, hatte aber das Gefühl, daß Petros Nacht des Triumphes gerade einen schweren Dämpfer bekommen hatte.
Die Freigelassenen hatten das Gepäck aufs Schiff gebracht. Sie blieben an Bord. Wir sahen, wie die Matrosen ihre Plätze an den Haltetauen einnahmen. Der Kapitän stand unruhig oben am Fallreep, wollte jetzt, wo Wind aufgekommen war und es hell wurde, endlich die Segel setzen. Keiner von uns machte Anstalten, nach Linus zu schauen. Es war besser, seine Anwesenheit an Bord zu vergessen.
Das Gefährt war ein geräumiges Handelsschiff mit dem Namen Aphrodite . Balbinus würde es sehr bequem haben; es gab eine Kabine für den Kapitän und bevorzugte Passagiere, eine über dem Heck hängende Latrine, sogar eine Kombüse, in der die Mahlzeiten zubereitet werden konnten. Die Aphrodite war anderthalbmal so groß wie das Schiff, mit dem Helena und ich aus Syrien zurückgesegelt waren. Sie mußte stabil gebaut sein, um eine derart weite Reise so spät im Jahr bewältigen zu können.
Jetzt stand der Verbrecher zögernd da; er schien nicht recht zu wissen, was von ihm erwartet wurde. »Soll ich an Bord gehen?«
Seine Zweifel wurden rasch zerstreut. Petronius Longus baute sich vor ihm auf, flankiert von Martinus und mir. Die übrigen Mitglieder der Truppe bildeten einen engen Kreis um uns.
»Nur noch ein paar Formalitäten.« Jetzt, wo sich Balbinus unter Aufsicht der Vierten Kohorte befand, würde es kein Händeschütteln und freundliches Verabschieden geben. »Darauf habe ich lange gewartet, Balbinus«, sagte Petro.
»Sie haben zweifellos Ihre Pflicht getan, Hauptmann.« Ein Vorwurf lag in seiner Stimme. Er wirkte immer noch wie ein Verkäufer für Tunikalitzen – einer, der zu seinem Erstaunen gerade erfahren hat, daß sein bestickter ägyptischer Schnickschnack in einer piekfeinen Wäscherei zehn Togen purpurrot verfärbt hatte. »Ich habe die Verbrechen, die man mir zur Last legt, nicht begangen.«
»Das sagen sie alle«, beschwerte sich Petronius und schaute in den Himmel. »Oh, ihr Götter! Wie ich diese Heuchelei hasse! Ein aufrechter Bösewicht widersetzt sich der Verurteilung nicht. Er zuckt mit den Schultern und nimmt es hin, daß man ihn erwischt hat. Aber ihr selbstgerechten Typen müßt alle immer rumjammern, daß ihr gar nicht versteht, wieso man euch derart verkennen kann. Ihr seid davon überzeugt, daß es in einer zivilisierten Gesellschaft nur darum geht, Männer wie euch in Ruhe ihren Geschäften nachgehen zu lassen, ohne von diensteifrigen Blödmännern wie uns gestört zu werden. Blödmännern, die keine Ahnung haben.« Petronius biß so fest die Zähne zusammen, daß ich meinte, sie knirschen zu hören. »Nur, daß ich sehr wohl eine Ahnung habe!« knurrte er. »Ich verstehe durchaus, worum es euch geht.«
Dieser Ausbruch zeigte keine Wirkung. Balbinus’ Augen, deren Farbe total unauffällig war, wanderten zu mir. Er schien zu merken, daß ich ein Außenseiter war, und hoffte auf Mitgefühl. »Du hast deine Chance gehabt«, sagte ich, bevor er anfangen konnte zu jammern. »Ein Geschworenengericht, in der Ruhe der Basilika. Sechs Anwälte. Geschworene, die deinem Rang entsprechen und sich deine Taten angehört haben, ohne sich davon krank machen zu lassen. Ein Richter, der selbst bei der Urteilsverkündung höflich blieb. Während draußen die Händler an ihren Ständen weiterhin von deinen Diebesbanden bestohlen und fast mittellose alte Frauen um ihr letztes Erspartes gebracht wurden; Männer, die es wagten, sich gegen deine Taschendiebe zu wehren, brachen blutend in der Gosse zusammen; Sklavinnen wurden von ihren wütenden Herrinnen in die
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