Gnadenlos: Auf der Flucht (German Edition)
vermisste sie ihn. Den Dad, den sie als Kind gekannt hatte. Witzig, streng, ideenreich, und – für sie da. Immer für sie da, egal wozu sie ihn brauchte. Er hatte Kekse für die Schule gebacken, er war mit ihr den ersten BH kaufen gegangen und hatte geduldig dagesessen und gewartet, als sie Dutzende von Kleidern für den Abschlussball anprobiert hatte.
Erst danach hörte er nach und nach auf, der Dad zu sein, den sie kannte, und war nicht mehr ununterbrochen anwesend. Und dann, eines Tages, war er zwar da, aber keineswegs mehr anwesend.
Er hatte sie aus verwirrten grauen Augen angesehen, die ihren so ähnlich waren, und nicht gewusst, wer sie war. Ein paarmal hatte er sie mit dem Namen ihrer Mutter, Sylvia, angesprochen. Und die letzten fünf Jahre seines Lebens hatte er sie überhaupt nicht mehr angesprochen.
Aber sie wusste, was er in dieser Situation gesagt hätte.
Acadia straffte die Schultern und befahl ihrem rumorenden Bauch, Ruhe zu geben. Es war gut, etwas zu wollen. Es bedeutete, dass sie noch am Leben war und ehrgeizig genug, um es zu wollen.
Es bedeutete nicht, dass sie bekam, was sie wollte.
Der dürre Köter, nur Haut und Knochen und Schlappohren, trottete über die Schotterstraße, wackelte mit dem langen Schwanz und kam ihr auf halbem Weg entgegen.
»Na, Kleiner.« Er war wahrscheinlich voller Flöhe, aber sie beugte sich trotzdem zu ihm hinunter und kraulte ihn hinter einem der herabhängenden Ohren. Er drückte ihr seine nasse Nase gegen die Hand, während sie die drei Männer fragte, ob es jemanden gab, bei dem sie ein Verbrechen anzeigen konnte.
Ein alter Kerl lachte, was unappetitlich aussah, denn sein Gebiss lächelte sie von der Armlehne aus an, während sein eigenes Lächeln nichts als geschwärztes Zahnfleisch entblößte. Er wies mit dem Daumen über seine Schulter. » ¿Policía? José Fejos …« Er sagte noch mehr, aber der Dialekt war schon schwer genug zu verstehen ohne das zusätzliche Hindernis fehlender Zähne. Acadia wich zurück, als er die Worte regelrecht ausspuckte, bedankte sich hastig bei ihm und öffnete die Tür des Gebäudes, auf das der alte Mann gedeutet hatte. Der Hund folgte ihr wie ein Schatten.
Die gute Nachricht war, dass es in der Stadt jemanden gab, der für das Gesetz stand.
Die schlechte Nachricht war, dass das Gesetz in Venezuela so korrupt war, dass Polizei und Kriminelle praktisch ein und dasselbe waren. Bei ihren Recherchen hatte sie gelesen, dass mehr als zwanzig Prozent der Verbrechen im Land von Polizeibeamten begangen wurden. Sie hatte das dumpfe Gefühl, dass diese Bar nicht die Polizeistation war, und sie hatte ein noch mulmigeres Gefühl, die policía in einer Bar vorzufinden, aber sie ging trotzdem hinein.
Der Raum war schwach beleuchtet. Nicht der Atmosphäre wegen, sondern weil das einzige Licht durch die geschlossenen Läden eines Fensters am hinteren Ende drang, wo drei Männer saßen und Karten spielten. Auf einer Theke, die aus einigen Stücken Sperrholz und denselben Ölfässern gebaut war, die das Dach der Mission zusammenhielten, standen ein paar schmutzige Gläser und eine leere Flasche. Außerdem lag da ein zerbrochener Besenstiel. Ein altmodischer Deckenventilator, dem ein Blatt fehlte, gab ein merkwürdig seufzendes Flapp-Flapp-Wamm von sich, während er sich träge über ihren Köpfen drehte. Obwohl dieCantinarecht klein war, roch es nach einem großen Saufgelage, und hier hatte auch der verlockende Duft gegrillter Zwiebeln seinen Ursprung. Ihr lief das Wasser im Mund zusammen. Vielleicht kam sie gerade rechtzeitig zum Abendessen.
Die Kartenspieler waren eindeutig nicht besonders interessiert an einer Fremden in ihrer Stadt und blickten nur kurz auf, als sie eintrat. Niemand sagte ein Wort, sodass die Tritte ihrer Stiefel auf dem kaputten Fliesenboden sich sehr laut anhörten, als sie durch den kleinen Raum nach hinten ging. Die einzigen sauberen Stellen auf dem Boden befanden sich dort, wo einmal etwas verschüttet worden war, und ihre Stiefel machten bei jedem Schritt klebrige Geräusche.
» Buenas tardes, Gentlemen.« Der Hund hockte sich neben sie, als sie neben dem verschrammten, mitgenommenen Eichentisch stehen blieb. »¿Quién de ustedes es el oficial policía?«
»Ich spreche Englisch.« Der Mann, der ihr am Nächsten saß, schlang einen speckigen Arm um die Lehne seines Stuhls und sah sie unter dem Rand einer schmierigen schwarz-orangenen Baseballmütze hervor an, auf deren Vorderseite ein brüllender Tiger
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