Gnadentod
angetan hätte, wenn er Bescheid gewusst hätte. Dann drehte er den Spieß um und richtete die Wut auf seinen Vater. Da Richard für alles verantwortlich war, weil er nicht vergeben hatte.
Schuldzuweisung. Der Apfel fällt nicht…
Ich dachte über die Art und Weise nach, wie sie ihr Vorhaben in die Tat umgesetzt haben mochten. Eric und Joanne hatten das Ganze wochen-, vielleicht monatelang im Voraus geplant. Waren sie rasch einer Meinung gewesen, oder hatte Eric es seiner Mutter auszureden versucht? Hatte er schließlich aufgegeben und sich darauf beschränkt, sie auf Polaroids unsterblich zu machen?
Wie hatte sie ihn überzeugt? Indem sie ihm gesagt hatte, es sei edel und tapfer?
Oder musste er gar nicht erst überzeugt werden - weil er ebenfalls wütend auf sie war. Gehörte er zu diesen erschreckenden Kindern, denen jene wenigen geheimnisvollen grauen Zellen fehlen, die die Hemmschwelle des Bösen bilden?
Zuerst der Plan, dann die Nacht der Vollstreckung … ein heimlicher Ausflug von Mutter und Sohn in einer der zahlreichen Nächte, in denen Richard verreist war. Eric am Steuer, seine Mutter auf dem Beifahrersitz.
Die lange Fahrt durch die Dunkelheit zum Rand der Wüste. Lancaster, weil Mom darauf bestand.
Ekel erregend. Wie konnte eine Mutter so etwas ihrem Sohn antun? Welche Sünde mochte sie begangen haben, die schlimmer war als das?
Es war unwahrscheinlich, dass ich die Antwort in ihrem Krankenblatt fand. Aber man tat, was man konnte.
Man tat, was richtig war. Und hoffte auf einen Tag des Jüngsten Gerichts.
Auf Transzendenz.
Auf Absolution.
Der vorwiegend aus Kalkstein und Spiegeln bestehende Gebäudekomplex des St. Michael’s zog sich über mehrere Blocks am Wilshire Boulevard in Santa Monica, eine halbe Meile östlich vom Strand. Ich hatte dort vor einigen Jahren Seminare für Kinderärzte des Krankenhauses über Scheidungen, Kindesmissbrauch und Bettnässen abgehalten, hatte aber keine Ahnung, wie ich die Personalverwaltung und das Archiv für die Unterlagen ehemaliger Patienten finden sollte.
Ich ließ mir den Weg von einem Jungen mit einem spärlichen blonden Bart und einem Namensschild erklären, das besagte, er sei ein Dr. med. Er schickte mich zur Nordseite des Häuserkomplexes, der aus mehreren miteinander verbundenen Gebäuden bestand.
Ich versuchte es zuerst im Personalbüro Human Resources - menschliche Ressourcen. Die meisten Unternehmen nennen es inzwischen so - eine warme, kuschelige Wendung des Lexikons. Ob das den Schmerz lindert, wenn man entlassen wird?
Das Büro war klein, trist, steril und besetzt mit einer gebieterisch aussehenden Schwarzen in einem orangefarbenen Kostüm, die spaltenweise Daten in einen Computer eingab. Ich hatte mein Namensschild von Western Pediatrics angesteckt und meinen Ausweis von der Universität am anderen Ende der Stadt zur Hand, falls das Schild nicht ausreichte. Aber sie lächelte nur, als ich ihr sagte, ich müsste eine Fakultätsfeier ausrichten und brauchte dazu einige Adressen, und überreichte mir einen Band von der Größe eines Telefonbuchs mit der Aufschrift Belegschaftsverzeichnis. Ihre Offenheit überraschte mich. Ich hatte mich zu lange mit Cops, Anwälten, Psychopathen und anderen unzugänglichen Wesen abgegeben.
Sie ging an ihren Schreibtisch zurück, während ich das Buch durchblätterte. Im vorderen Teil war das medizinische Personal verzeichnet. Seitenweise Ärzte. Namen, Praxisadressen, Fotografien. Keine persönlichen Angaben. Niemand, der den verschiedenen Gesichtern des Mannes ähnelte, der nach Leimert Fuscos Ansicht der wirkliche Dr. Death war. Dasselbe galt für die Abschnitte im hinteren Teil, in denen Sozialarbeiter, Physio-, Beschäftigungs- und Atemtherapeuten aufgelistet waren.
Als ich das Buch zurückbrachte, sagte die Frau in Orange: »Ich hoffe, es wird eine schöne Feier.«
Das Archiv für die Patientenunterlagen war ein wenig komplizierter. Die Dame am Empfang war eine dieser Frauen mit geschürzten Lippen, denen Skepsis zur zweiten Natur geworden war, und sie hatte Joe Safers gefaxte Genehmigung noch nicht zu Gesicht bekommen. Schließlich tauchte das Schriftstück doch auf, und sie übergab mir das zentimeterdicke Krankenblatt von Joanne Doss.
»Sie müssen es hier lesen. Das Fax bevollmächtigt Sie nicht, Kopien zu machen.«
»Kein Problem.«
»Das sagen sie alle.«
»Wer?«
»Ärzte, die für Anwälte arbeiten.«
Ich nahm die Akte mit zur anderen Seites des Raums. Sie bestand aus farbigen
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