Gnadentod
müssen.
Vom Telefon im Schlafzimmer aus rief ich in Safers Kanzlei an.
»Guten Morgen, Dr. Delaware. Wie geht’s Ihrer Verletzung?«
»Besser. Wie geht’s Stacy?«
»Sie hat tief und fest geschlafen«, sagte er. »Ich musste sie wecken, damit sie rechtzeitig zur Schule kam. Ein reizendes Mädchen. Sie hat sogar versucht, für meine Frau und mich Frühstück zu machen. Ich hoffe, sie überlebt ihre Familie. In psychologischer Hinsicht, meine ich.«
Ich dachte an Stacys Worte über Selbstbestimmung und fragte mich, ob sie sich daran halten würde.
»Was sie braucht«, sagte ich, »ist eine Trennung von ihrer Familie. Sie muss ihre eigene Identität finden. Richard erwartet von ihr, dass sie nach Stanford geht, weil er und Joanne dort waren. Sie sollte unbedingt auf eine andere Universität gehen.«
»Eric ist auch in Stanford«, sagte er.
»Genau.«
»Hat der Junge sich nicht angemessen von seiner Familie gelöst?«
»Keine Ahnung«, sagte ich. »Ich weiß nicht genug über ihn, um ein Urteil darüber abzugeben.« Ich will nicht wissen, ob er in einem billigen Motel neben dem Bett gesessen und eine Nadel in die Vene seiner Mutter eingeführt hat. Wenn Richard auch nur ein kleines bisschen auf Sie hört, sollten Sie versuchen ihn so weit zu bringen, dass er Stacy die Wahl lässt.«
»Klingt einleuchtend«, sagte er, obwohl er an etwas anderes zu denken schien. »Ich weiß, dass der Junge nicht Ihr eigentlicher Patient ist, aber ich mache mir doch Sorgen um ihn. Dieses Ausmaß an Wut. Ist Ihnen noch ein Grund eingefallen, warum er derart explodieren könnte?«
»Nein. Wie hat er die Nacht überstanden?«
»Byron sagt, dass Vater und Sohn aufgeräumt haben und zu Bett gegangen sind. Eric schläft noch.«
»Und Richard?«
»Richard ist wach. Richard ist voller Ideen.«
»Jede Wette. Hören Sie, Joe, ich muss einen Blick auf das Krankenblatt von Joanne Doss werfen.«
»Aus welchem Grund?«
»Weil ich ihren Tod besser verstehen will. Wenn ich Stacy helfen soll, brauche ich so viele Informationen wie möglich. Die Untersuchungen sind im St. Michael’s gemacht worden. Richard hat gesagt, Sie hätten eine Vollmacht, deshalb wollte ich Sie bitten, eine Freigabeerklärung zu unterschreiben und sie an die Krankenhausverwaltung zu faxen.«
»Gemacht. Sie sagen mir natürlich Bescheid, falls Sie irgendetwas finden, was ich wissen sollte.«
»Zum Beispiel?«, sagte ich.
»Zum Beispiel alles, was ich wissen sollte.« Sein Tonfall war härter geworden. »Einverstanden?«
Ich dachte an all die Dinge, die ich ihm nicht gesagt hatte. Und ich wusste, dass es eine Menge Dinge gab, die er mir nicht gesagt hatte.
»Klar, Joe«, sagte ich. »Kein Problem.«
Ich nahm noch mehr Advil, presste Eis gegen die Schwellung, machte einen kurzen Dauerlauf, räumte auf, ging hinüber in Robins Atelier und steckte meinen Kopf zur Tür hinein. Ohrenbetäubender Lärm schlug mir entgegen. Sie stand im Overall und mit Schutzbrille hinter den Plastikwänden der Lackierzelle und schwenkte eine Spritzpistole. Da ich wusste, dass sie nicht gestört werden durfte, und bezweifelte, dass sie mich sehen konnte, winkte ich ihr zu und machte mich auf den Weg zum St. Michael’s Medical Center.
Ich nahm den Sunset bis zur Barrington, dann die Barrington bis zum Wilshire Boulevard. Ich fuhr zu schnell nach Santa Monica, obwohl es keinen Grund zur Eile gab. Der Grund für meinen Besuch in dem Krankenhaus bestand darin, nach Michael Ferris Burke Ausschau zu halten, oder wie immer er sich jetzt nannte. Aber meine neuerlichen Verdachtsmomente gegen Eric dämpften jede Aussicht darauf, eine Verbindung zwischen Michael Burke und Joannes letzter Reise zu finden.
Kein böser Fremder. Jemand aus der Familie.
Aber was gab es sonst für mich zu tun?
Und vielleicht würde ich ja tatsächlich etwas finden.
Bei dem Gedanken musste ich laut auflachen. Die Verleugnung des Psychoklempners. Jeder andere in jenem Motelzimmer wäre mir recht, nur nicht Eric.
Erneut lief der Wutausbruch des Jungen vor meinem geistigen Auge ab, und die Tatsachen spuckten mir regelrecht ins Gesicht. Helen, die Hündin. Schuld und Sühne.
Dieses Ausmaß an Wut.
Das Edelste und Tapferste, was er je getan hatte.
Mates Tod hatte Erics Schuldgefühle geweckt, und Richards Racheversuch hatte sie noch weiter aufgestachelt.
Eric wusste, dass ein Unschuldiger ins Visier geraten war, weil Mate Joannes Tod nicht herbeigeführt hatte.
Er fragte sich, was sein Vater ihm
Weitere Kostenlose Bücher