Gnosis
die Schokolade nichts ausrichten. Der Geschmack machte alles nur noch schlimmer.
Er brauchte mehr. Elijah holte zwei Zwanziger aus seiner Brieftasche und warf sie dem Verkäufer zu. Dann riss er einen ganzen Karton mit Schokoladenriegeln an sich. Er sank auf die Knie und ließ alles fallen. Er nahm den ersten Riegel, riss die Verpackung ab und stopfte sich die Schokolade in den Mund.
Seine Zähne zermalmten die kühle, wächserne Schokolade, und er schlang sie herunter. Sie blieb ihm im Hals stecken. Weil er nicht aufhören wollte, aber keine Luft bekam, würgte er alles wieder heraus, fing den vollgesabberten Brocken mit beiden Händen auf.
Er holte tief Luft und brach das Stück in der Mitte durch, dann stopfte er es sich wieder in den Mund. Die brennende Gier war noch da, sie leuchtete in grellem Pink. Wie ein Irrer sah er sich nach Hilfe um, doch niemand achtete auf ihn. Die Leute hasteten vorbei und wandten schnell den Blick ab.
Nur einer sah ihn an: der Obdachlose. Er beachtete seinen Gameboy nicht mehr. Stattdessen starrte er mit unverhohlenem Verlangen Elijahs Schokoladenhaufen an. Und dann – scheinbar grundlos – sammelte Elijah die übrigen Schokoladenriegel auf und lief zu ihm hinüber.
Gierig schnappte sich der Mann einen Riegel aus Elijahs Hand. Er riss die Verpackung herunter, biss ein Stück ab und verschlang es. Dann noch eins. Und noch eins. Währenddessen ließ Elijahs Hunger langsam nach. Zwei Schokoladenriegel später war er endlich satt. Elijah war wieder der Alte. Und dann – als könnte er es spüren – fing der Obdachlose an zu reden.
«Danke, Elijah. Schön, dich zu sehen, Mann.»
Elijah starrte ihn mit großen Augen an. Dass der Mann wusste, wie er hieß, erschreckte ihn mehr als alles, was gerade eben geschehen war.
«Du kennst mich wohl nicht mehr, was?», fragte der Mann und grinste leicht sarkastisch.
«Sollte ich?»
«Wir haben nach der Schule immer zusammen gespielt. Unsere Mütter sind Schwestern. Klingelt es?» Der Mann machte eine kurze Pause, dann brüllte er: «Ich bin’s, du Blödmann! Stevie!»
«Großer Gott!», stöhnte Elijah, als er unter dem Dreck plötzlich seinen Vetter Stephen Grimes erkannte. «Stevie.»
«Worauf du einen lassen kannst.»
«Was ist denn mit dir passiert?»
«Oh, als wärst du ein Bild der Götter …», knurrte Grimes und verdrehte die Augen. «Hey, wie wär’s, wenn wir unser Wiedersehen oben auf der Straße feiern? Ich träum schon seit Wochen von einem Cheeseburger und würde gern mal sehen, ob die eigentlich so gut sind, wie ich sie mir vorstelle.»
«Ja, klar», sagte Elijah und fühlte sich, als wäre er eben in eine Folge von Outer Limits spaziert.
Als die beiden Männer die Treppe nahmen, wich Elijahs surreale Verwirrung der reinen Freude. Allerdings spürte er auch unterschwellige Angst. Denn tief in seinem Herzen kannte er die Wahrheit. Die Freude, die er empfand, war nicht seine eigene Freude.
KAPITEL 8
29. DEZEMBER 2007 – 21:31 UHR (50 STUNDEN, 29 MINUTEN BIS ZUR NACHT DES JÜNGSTEN GERICHTS)
Winter lag im dunklen Hotelzimmer unter ihrer Decke und schlang die Arme um sich. Sie wünschte, ihr Vater säße auf der Bettkante, wie damals, als sie ein kleines Mädchen war.
Kein Tag verging, an dem sie nicht an ihn dachte, doch heute war die Sehnsucht so groß, dass sie ihr körperliche Schmerzen bereitete. Im Gegensatz zu Winters Mutter hatte ihr Vater Yu Han stets die Ruhe bewahrt, wenn etwas danebenging. Seine Stärke war ihr ein großer Trost gewesen. Vor allem dies hatte sie zur östlichen Philosophie gebracht.
Sie hatte so viel von ihm gelernt. Buddhismus. Yoga. Meditation. Feng shui. Und natürlich das Wissen über das Ch’i. Winter lächelte. Sie erinnerte sich an eines der Gespräche mit ihrem Vater. Damals war sie sieben Jahre alt gewesen.
Winter stand in der Tür und betrachtete den kahlen Hinterkopf ihres Vaters. Neben seiner orangefarbenen Robe wirkte der Schädel richtig faltig. Hinter ihm sah sie den kleinen, hölzernen Schrein mit dem goldenen Buddha. Er lächelte sie an. Winter lächelte zurück.
Sie mochte das Arbeitszimmer ihres Vaters. Es war so anders als die anderen Zimmer des Hauses mit den ganzen Sachen ihrer Mutter, die sie allesamt nicht anrühren durfte. Doch wenn sie diesen kleinen, holzgetäfelten Raum sah, kam es ihr vor, als würde sie einen Blick in eine fremde Welt werfen, in der alles möglich war. Auch Zauberei.
«Hallo, Nu Er», sagte ihr Vater, ohne sich umzudrehen.
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