Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gnosis

Gnosis

Titel: Gnosis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Fawer
Vom Netzwerk:
erinnern, sich jemals ohne das silberne Kreuz gesehen zu haben. Es war ein Teil von ihr geworden. Sie nahm sie niemals ab. Nicht unter der Dusche, nicht auf der Bühne, nicht beim Sex. Niemals. Nur einmal hatte sie es versucht.
    Mit siebzehn hatte sich Winter – weil ihre Freunde sie wegen ihres unmodernen Schmucks hänselten – die Kette über den Kopf gezogen (der Verschluss hatte noch nie funktioniert), doch in dem Moment, als sie die Kette weglegte, war ihr schrecklich übel geworden. Obwohl sie merkte, dass sie sich übergeben musste, lief sie nicht ins Badezimmer. Stattdessen nahm sie das Silberkreuz und drückte es an ihre Brust. Eine Sekunde später erbrach sie sich auf den weißen Schminktisch vor ihr, aber das war ihr egal. Sie zog die Kette wieder über den Kopf, sodass sie sie auf der Haut spürte, und eine Woge der Erleichterung ging über sie hinweg.
    Aber jetzt … war ihre Kette nicht mehr da.
    Winter wollte sie wiederhaben, doch irgendetwas in ihr – etwas gänzlich Unbekanntes – jubelte vor Freude. Denn etwas in ihr begriff, was Winter selbst nicht begreifen konnte.
    Ohne das Kreuz war sie frei.

INTERLUDIUM I
20. MAI 2007 – 10:31 UHR (225 TAGE BIS ZUR NACHT DES JÜNGSTEN GERICHTS)
     
     
    Susan Collins setzte ein außerordentlich warmherziges (und außerordentlich falsches) Lächeln auf, als sie die Bühne betrat, während die Titelmelodie das schwachsinnige Studiopublikum zu animalischen Begeisterungsstürmen trieb. Nachdem sie sich durch den hirnlosen Eröffnungsmonolog gegrinst hatte, wandte sie sich der Kamera 2 zu.
    «Und nun zu unserer heutigen Sendung! Mein Gast heute Morgen ist kein Geringerer als der Hohepriester einer neuen Religion, die sich über unser Land ausbreitet – sie nennt sich Gnostizismus. Manche bezeichnen ihn als Sektenführer, doch seine Anhänger schwören, sie seien nie glücklicher gewesen. Bitte begrüßen Sie recht herzlich: Valentinus!»
    Am liebsten hätte sie Gary dafür erschlagen, dass er diesen religiösen Spinner eingeladen hatte, selbst wenn Valentinus der Liebling aller Titelseiten war. Als der selbstgefällige Fatzke auf die Bühne kam, brach frenetischer Jubel aus. Er lächelte und winkte scheu, die perfekte Mischung aus Selbstvertrauen und Schüchternheit, im Zusammenspiel mit seinem jungenhaften Aussehen, trieb die überwiegend weibliche Menge schier in den Wahnsinn.
    Er trat zu ihr. Normalerweise mochte sie es nicht, wenn ihr jemand zu nah kam, aber dieser Mann hatte etwas an sich. Seine Augen waren grau, mit winzig kleinen, grünen Flecken. Noch nie war sie jemandem mit dermaßen durchdringendem Blick begegnet – als sähe er direkt in ihre Seele.
    Wenn es um Männer ging, bevorzugte sie normalerweise Neandertaler, doch dieser atemberaubend schöne, fast androgyne Mann war einfach der Hammer. Seine Haut war unfassbar weich, wie bei einem Fünfzehnjährigen. Selbst sein langes, dunkelbraunes Haar war sexy. Bei jedem anderen hätte so eine Frisur zu sehr nach Bee Gees ausgesehen, doch mit den scharfgeschnittenen Wangenknochen und dem schmalen Kinn sah Valentinus damit phantastisch aus.
    Er nahm Susan in seine schlanken Arme und drückte sie fest an sich. Sie schloss die Augen und atmete seinen Duft tief ein. Er hatte diesen Geruch an sich. Nicht Schweiß, aber so ähnlich. Wie Moschus. Oder … Sex. Am liebsten hätte sie ihm das Hemd vom Leib gerissen, die weiche, braungebrannte Brust gestreichelt, die sich darunter zweifellos verbarg, ihn bei seiner Mähne gepackt und zu Boden gezerrt.
    Er trat einen Schritt zurück. Susan wedelte sich mit ihren Notizen Luft zu.
    «Wow», sagte sie mit einem Blick in Kamera 3, während sie es kaum erwarten konnte, wieder in Valentinus’ graugrüne Augen zu blicken. «Es gibt aufregendere Dinge im Leben als einen Morgenkaffee … hab ich recht, meine Damen?»
    Während alle lachten, deutete Susan auf die beiden Sofas hinter sich, und sie nahmen Platz.
    Während der folgenden zweiundvierzig Minuten konfrontierte Susan ihn mit sämtlichen Gerüchten, die sich um seine geheimnisvolle Organisation rankten, aber Valentinus war einfach zu gut und bediente sich des Publikums besser als der gewiefteste Politiker. Er tat die hedonistischen Orgien mit einem Lachen ab, bestritt die mythischen «Silbertickets», die einem den Zutritt zum gnostischen Initiationsritual ermöglichten, und wechselte das Thema, als sie wissen wollte, wie viel Geld er schon gesammelt hatte.
    Auf keine einzige Frage gab er direkte Antwort, und

Weitere Kostenlose Bücher