Gnosis
«Komm, setz dich zu mir …»
Folgsam, wie sie war, trat Winter ein und setzte sich neben ihn, auch wenn sie nicht versuchte, den Lotussitz ihres Vaters nachzuahmen – da taten ihr die Beine zu sehr weh. Eine Weile sagte sie kein Wort. Stattdessen starrte sie die langen, hölzernen Weihrauchstäbchen an und atmete den süßen, beißenden Duft.
«Warum brennen Buddhisten Weihrauchstäbchen ab, Ba Ba?»
Ihr Vater lächelte, und um Augen und Mund entstanden kleine Fältchen.
«Nun, da gibt es viele Gründe, auch wenn dich der ursprüngliche Grund erstaunen wird.»
«Was denn?» Winter beugte sich vor, denn die Geschichten ihres Vaters hörte sie immer gern.
«Vor zweitausend Jahren hielt Buddha Siddharta Gautama eine Predigt. Mittendrin wurde ein Mönch von einer Mücke gestochen. Aus einem Reflex heraus schlug der heilige Mann danach und tötete das Tier. Als er seine blutige Hand betrachtete, war der Mönch entsetzt. Er hatte vor Buddha einen Mord begangen. Nach der Predigt ersuchte er Gautama um Rat.
Gautama war weise und fand bald schon eine Lösung: Weihrauch.»
«Das verstehe ich nicht», sagte Winter ratlos.
«Insekten mögen den Rauch nicht. Indem man Weihrauch verbrannte, hielt man die Mücken fern, was sowohl die Konzentration förderte als auch weitere, unnötige Morde verhinderte.»
«Also verbrennen die Buddhisten Weihrauch nur, um die Mücken zu vertreiben?»
«Ja, so fing es an, aber die Sache hat sich in den letzten zweitausend Jahren weiterentwickelt. Heutzutage brennt man Weihrauch aus vielerlei Gründen ab: um unangenehme Gerüche zu überdecken, um eine Meditation zeitlich einzugrenzen, um Buddha zu huldigen oder um einen Raum zu läutern.»
«Was ist denn mit dem Raum?»
«Nichts. Aber er muss rein sein, wenn du dein Ch’i mit dem Universum in Einklang bringen willst.»
«In Bruce-Lee-Filmen reden sie auch immer vom Ch’i. Es ist die Lebenskraft, oder, Ba Ba?»
«Nicht ganz, Nu Er. Weißt du, Buddhisten glauben, dass alles im Universum einem ständigen Wandel unterworfen und miteinander verbunden ist. Und als die alten Philosophen nun versuchten, das Wesen aller Dinge zu erklären, kamen sie zu dem Schluss, dass es unsichtbar und in stetiger Bewegung sein muss. Nun, was ist um uns herum und besitzt diese beiden Eigenschaften?»
Winter dachte einen Moment nach und zuckte dann mit den Schultern.
«Ich gebe dir einen Tipp.»
Ihr Vater spitzte die Lippen und blies ihr sanft ins Ohr. Winter lächelte.
«Luft!», rief Winter.
«Genau. Das bedeutet Ch’i – ‹Luft› oder ‹Atem›.»
«Aber wieso haben sie dann in ‹Der Mann mit der Todeskralle› gesagt, Ch’i ist die Lebenskraft?»
«Es gibt viele verschiedene Arten des Ch’i. Es gibt ein persönliches Ch’i, das so etwas wie Lebenskraft ist, aber genauso wichtig ist das universelle Ch’i. Um gesund zu bleiben – an Geist, Körper und Seele –, muss man in Einklang mit dem Universum leben.»
«Wie macht man das?»
«Indem man zulässt, dass man sich mit dem Universum wandelt. Aber man muss aufpassen. Zu viel oder zu wenig Veränderung zieht Unausgeglichenheit nach sich, was einen krank machen kann.»
«Solange man also im Einklang mit dem Universum lebt, bleibt man gesund?»
«Man muss auch mit sich selbst im Einklang leben. Dein Yin und Yang muss ausgeglichen sein.»
Winter zeigte auf den schwarzweißen Kreis an der Wand. Er erinnerte sie immer an zwei Kaulquappen. «Du meinst, das runde Dingsda ist in mir drin?»
«Nein, Nu Er», lachte ihr Vater. «Das taijitu ist nur ein Bild, das Yin und Yang darstellt.»
«Was ist Yin und Yang denn eigentlich?»
«Es sind die beiden gegensätzlichen Kräfte, die in allen Wesen dieser Welt wirken. Das Yin wird meist durch das Wasser dargestellt. Es ist traurig, passiv, dunkel und weiblich. Es symbolisiert die Nacht. Das Yang wird durch das Feuer dargestellt. Es ist glücklich, hell, aktiv und männlich. Es symbolisiert den Tag.
Nichts ist ganz Yin oder Yang. Alles enthält mindestens ein Körnchen seines Gegenteils: Der Winter wird zum Sommer; alles, was aufsteigt, kommt wieder herab. Entsprechend kann man nicht Yin haben, wenn man nicht auch Yang hat: Es gibt keine Kälte ohne Hitze, kein Dunkel ohne Licht.
Wir haben sowohl Yin als auch Yang in uns: Noch in finsterster Nacht kommt Licht von den Sternen. Doch nimmt Yin oder Yang zu, muss das andere abnehmen: Die aufgehende Sonne vertreibt die Nacht. Hat man die perfekte Balance gefunden, ist das der Einklang. Das will
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