Gnosis
eines anderen.
Elijah holte tief Luft. Einen Moment lang brach der alte Elijah – der echte Elijah – hervor, und blankes Entsetzen packte ihn. Mit dem verkrampften Magen und dem Schweiß, der über seinen Rücken rann, fühlte er sich wieder wie er selbst.
Dann kehrte die Glückseligkeit zurück, flutete Elijah mit solcher Macht, dass er leichtsinnig wurde. Wieso machte er sich Sorgen um die Frau und die verlorene Kette? Das war doch alles ganz egal, wenn ihm so zumute war. Er vergeudete Zeit, wenn er herausfinden wollte, was mit dem Augenblick nicht stimmen mochte, anstatt den Augenblick zu genießen. Er war von seinen Ängsten befreit. Er konnte tun, was er wollte. Absolut alles.
Elijah fuhr herum. Er wollte irgendetwas tun, was er sonst nie geschafft hätte. Als er sich umdrehte, sprang ihm ein Schild mit greller Schrift ins Auge – grün, gelb, rot und lila, auf schwarzem Grund. Vor einer Stunde noch wäre ihm beim bloßen Gedanken an dieses Wort schon übel geworden. Jetzt aber schien ihn das Wort beinahe anzulocken.
Er lief über die Straße und wich einem Taxi und einem chinesischen Fahrradboten aus. Elijah versuchte, nicht zu denken. Er hetzte die nasse Treppe hinunter, immer zwei Stufen auf einmal, und hielt sich mit der behandschuhten Hand am silbernen Geländer fest.
Als er unten auf dem verdreckten Bahnsteig stand, kamen ihm kurz Zweifel, doch schob er sie beiseite und zwängte sich in die Menge der Pendler. Er sprang über das Drehkreuz und lief die nächste Treppe hinunter. Währenddessen wurde Donnergrollen laut, gefolgt von kreischendem Metall.
Ruckartig kam der Zug zum Stehen, und die mit Gummi eingefassten Türen zischten auf. Eine Flut von Menschen ergoss sich aus dem Waggon, und Elijah zwängte sich hindurch. Er konnte es kaum erwarten. Sekunden später drängte er in den überfüllten Wagen. Dann knallten die Türen zu, und der Zug nahm Geschwindigkeit auf.
Als Elijah durch die zerkratzten Scheiben blickte, wich der Bahnhof einem schwarzen Nichts, in dem immer wieder ein gelbes Licht aufleuchtete. Da fragte er sich, ob er einen schrecklichen Fehler begangen hatte. Die U-Bahn war nicht der rechte Ort für einen frischgeheilten Ochlophobiker.
Ganz und gar nicht.
Keuchend kam Darian unten auf dem Bahnsteig an, als die Bahn eben anfuhr.
«Scheiße!», schrie sie. «Scheiße, Scheiße, Scheiße!»
Sie hatte ihn verloren.
Während sie in den pechschwarzen Tunnel starrte, fragte sich Darian, wer in größerer Gefahr war: Elijah Cohen … oder die Leute im Zug.
KAPITEL 7
29. DEZEMBER 2007 – 17:31 UHR (54 STUNDEN, 29 MINUTEN BIS ZUR NACHT DES JÜNGSTEN GERICHTS)
Das Hochgefühl, das Elijah empfunden hatte, als er in die U-Bahn stieg, verflüchtigte sich schnell. Aber er war auch nicht in Panik. Stattdessen war er … gespalten. Nur so konnte er beschreiben, was in ihm vor sich ging. Er war alles gleichzeitig – glücklich traurig ruhig gespannt gelangweilt aufgedreht –, und jedes Gefühl war von einer anderen Farbe umleuchtet – blassblau, neongelb, grellweiß, knallrot –, als bezöge seine Synästhesie sich plötzlich nicht mehr nur auf Buchstaben, sondern auch auf Empfindungen.
Die Emotionen lärmten in seinem Kopf wie ein Klassenzimmer voll kreischender Kinder. Es war, als wäre er nicht mehr nur ein Mensch, sondern mehrere. Eine ganze Reihe von Filmen über multiple Persönlichkeiten ging ihm durch den Kopf – und kein einziger davon ging gut aus.
Eva mit drei Gesichtern. Mein Bruder Kain. Sybil. Psycho.
Mit einem Ruck kam der Zug zum Stehen, und Elijah hielt sich an der metallenen Stange fest, die an der Decke befestigt war. Zischend gingen die Türen auf, und massenweise Pendler stiegen aus. Aber es schien, als drängten für jeden, der ausstieg, zwei herein. Elijah wollte raus, war aber wie gelähmt. Eine Frau mit einem dick eingewickelten Baby quetschte sich auf den letzten freien Quadratzentimeter, und hinter ihr knallten die Türen zu.
Plötzlich fing das Baby an zu schreien. Das Heulen sägte durch den ganzen Wagen. Elijah sah die gequälten Mienen der anderen Fahrgäste, die alle gleichzeitig gelb vor Unmut wurden.
«Schschsch. Ganz ruhig, meine Kleine», gurrte die Mutter, eine dünne J. Lo, die ganz blau im Gesicht vor Verlegenheit und Erschöpfung war. Das Baby schrie immer lauter.
Plötzlich wurde Elijah warm. Schweißtropfen liefen über seine Wangen. Hastig wischte er sich über die Stirn, während sein Körper vor Hitze förmlich explodierte.
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