Gods and Warriors - Die Insel der Heiligen Toten: Band 1 (German Edition)
losband, verringerte er zwar seine Chance, den Hai abzuwehren, aber den Dolch durfte er um keinen Preis verlieren. Abgesehen davon nutzte ihm ein Speer in diesem Sturm sowieso nicht viel.
Gegen die Bordwand gestemmt, löste Hylas mühsam die Knoten und band die Waffe hastig an seinem Handgelenk fest. Kaum war ihm das gelungen, als die Wogen den Bug das Boot aus dem Wasser hoben und anschließend so heftig in ein Wellental schleuderten, dass ihm war, als würden alle seine Knochen durcheinandergerüttelt. Die Ruder flogen in hohem Bogen davon. Hylas klammerte sich verzweifelt am Bootsrand fest.
Mit einem ohrenbetäubenden Donnerschlag brach der Sturm los. Regen prasselte herab und im Nu war Hylas bis auf die Haut durchnässt. Der Himmelsvater kämpfte mit dem Erderschütterer, und Hylas war zwischen beiden gefangen. Baumhohe Wellen türmten sich auf, zornige Windböen durchwühlten die See und wirbelten Gischtflocken zum Himmel empor.
Abermals hob das Meer sein Boot aus dem Wasser und warf es in die Tiefe. Der Himmel war verschwunden, Dunkelheit umfing den Jungen. Eine gewaltige Woge hatte ihn und sein Boot erfasst. Unbarmherzig trug das Wasser sie hinauf bis auf den Wellenkamm, hielt das Boot dort einen Augenblick, sodass Hylas in den Abgrund unter sich starren konnte. Dann sauste das Boot hinab und direkt auf eine schwarze Wasserwand zu.
Es prallte mit voller Wucht dagegen und zerbrach wie eine Eischale.
H ylas trieb in völliger Windstille auf dem schwarzen, sanft atmenden Meer dahin. Die Nacht war sternenklar.
Er fror und seine vom Wasser durchweichte, verschrumpelte Haut schälte sich. Er konnte es immer noch nicht fassen, dass er überlebt hatte.
Seine Rettung verdankte er dem Dolch. Das lose Ende der Weidenschnur hatte sich im Sturm an einer Planke des zerschmetterten Bootes verfangen. Da das andere Ende an seinem Handgelenk befestigt war, hatte er sich über Wasser halten können. Die Planke war gerade lang genug, um liegend mit Händen, Füßen und Dolch vorwärtszupaddeln. Wenn er Ausschau halten wollte, blieb ihm nichts anderes übrig, als sich rittlings auf die Planke zu setzen, wobei seine Beine ungeschützt im Wasser baumelten. Deshalb setzte er sich möglichst wenig auf und paddelte lieber ins Blaue hinein, obgleich das ebenfalls ziemlich unheimlich war.
Ob nun bäuchlings oder rittlings, er arbeitete sich jedenfalls schon seit einer Ewigkeit durch dieses schier unendliche Meer und war dem Küstenstreifen am Horizont kein Stück näher gekommen.
Der Dolch schimmerte im Schein der abnehmenden Mondsichel. Er war zwar ein treuer Begleiter, konnte ihn aber nicht vor allem beschützen. Seit dem Sturm hatte er den Hai nicht mehr gesehen, aber er lauerte bestimmt irgendwo da draußen.
Trotz seiner Erschöpfung paddelte Hylas unaufhörlich weiter. Er durfte auf keinen Fall einschlafen, denn dann würde der Hai zuschlagen …
Plötzlich streifte ihn etwas am Fuß, und er fuhr mit einem Ruck aus dem Dämmerschlaf. Im Wasser wimmelte es von Fischen; sie blinkten wie silberne Scherben aus Sternenlicht auf, die Kleinen auf der Flucht vor den Großen.
Die Fische blieben eine Weile in seiner Nähe und waren dann urplötzlich verschwunden.
Hylas ließ mutlos die Hände sinken. Was hatte das für einen Sinn? Er würde die Küste niemals erreichen und genau wie diese Fische gefressen werden.
Der sterbende Keftiu hatte gesagt, das Meer kenne die Antwort auf seine Fragen, aber das stimmte nicht. Das Meer spielte mit ihm wie ein Luchs mit der Maus.
Eine leichte Brise kam auf und murmelte ihm ins Ohr. Mit einem Mal fiel ihm ein, dass er dem Keftiu versprochen hatte, eine seiner Haarsträhnen dem Meer zu übergeben und seinen Geist zu befreien.
Trotz des Sturmes hing das Haar erstaunlicherweise noch an seinem Gürtel. Niedergeschlagen knüpfte Hylas die feuchte Strähne los und warf sie in die Wellen. »Nehmt seinen Geist«, murmelte er. »Lasst ihn Frieden finden.«
Stille.
Insgeheim hatte er gehofft, das Meer würde ihm nach diesem Opfer ein Zeichen geben. Vielleicht würde das Meervolk kommen und den Geist des toten Mannes aufnehmen, wie der Keftiu behauptet hatte. Doch die einsame Locke schaukelte lediglich auf den Wellen, und der Nachtwind flaute mit leisem Seufzen ab.
Hylas legte sich auf den Bauch und schloss ergeben die Augen. Er konnte nicht mehr weiterpaddeln, er war einfach zu erschöpft. Er würde hier draußen sterben, ganz allein in der Dunkelheit.
Bitte, lass mich keine Schmerzen leiden, bat
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