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Gods and Warriors - Die Insel der Heiligen Toten: Band 1 (German Edition)

Gods and Warriors - Die Insel der Heiligen Toten: Band 1 (German Edition)

Titel: Gods and Warriors - Die Insel der Heiligen Toten: Band 1 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Paver
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Angst. Der Himmel spannte sich so unendlich weit, dass sie sich ganz klein fühlte, und die Sterne funkelten sie böse an. Beunruhigende Schatten huschten dort oben umher, Vögel, Fledermäuse – oder noch Schlimmeres.
    Immerhin hatte Pirra nicht weit entfernt eine Höhle mit Süßwasser entdeckt. Dort füllte sie gelegentlich ihren Trinkschlauch auf, aber nichts auf der Welt hätte sie dazu gebracht, in der Höhle zu übernachten. Höhlen führten in die Unterwelt. Betreten auf eigene Gefahr.
    Kurz nachdem der Fischer davongerudert war, hatte sich ein Sturm zusammengebraut. In jämmerlicher Stimmung hatte sie notdürftig unter einem Wacholderbusch Schutz gesucht und war bis auf die Knochen durchnässt worden. Unmittelbar darauf hatte sie das erlebt, wovor sich jeder Keftiu am meisten fürchtet: Die Erde hatte gebebt. Unter den Busch gekauert, bat sie den Erderschütterer flehentlich darum, aufzuhören. War er erzürnt, weil sie, eine Fremde, auf diese Insel gekommen war?
    Obwohl das Beben nicht lange gedauert hatte, lag sie die ganze Nacht wach und wartete ängstlich, ob der Stier tief unten im Meer erneut zu stampfen anfing. Am Morgen warf sie ihre Ohrringe als Opfergabe ins Meer und machte sich Vorwürfe, weil sie nicht früher daran gedacht hatte.
    Sie hätte nicht hierherkommen dürfen. Pirra hatte dem Fischer zwar befohlen, sie nach Keftiu zu bringen, aber er hatte erwidert, die Insel sei zu weit entfernt. Ungeachtet ihres Protests hatte er sie einfach hier abgesetzt und war anschließend eilig davongerudert. Offenbar hatte er Angst gehabt, und am nächsten Morgen begriff sie auch, wovor. Die Umrisse des Bergkamms kannte sie nämlich aus vielen Wandmalereien ihrer Heimatinsel.
    Der Fischer hatte sie auf der Insel der Göttin zurückgelassen.
    In Keftiu kursierten Geschichten über die einstigen Bewohner dieser Insel. Es hieß, sie hätten durch ihren übermäßigen Stolz den Zorn der Götter heraufbeschworen. Dann waren sie mit einem Mal spurlos verschwunden, und niemand hatte je wieder von ihnen gehört. Inzwischen war die Insel ein verlassener, heiliger Ort, den die Geister der Entschwundenen heimsuchten. Bis auf Priesterinnen, die Opfer brachten und geheime Rituale vollzogen, um die Göttin milde zu stimmen, kam niemand mehr hierher …
    Die Sonne stieg höher. Pirra war inzwischen so hungrig, dass sie trotz aller Bedenken beschloss, einen Vorstoß in die große Bucht zu wagen. Als das Boot des Fischers sich der Insel genähert hatte, war ihr ein Wrack in der Nähe der Küste aufgefallen. Vielleicht fand sie dort etwas zu essen.
    Sie wollte nicht daran denken, was sie machen sollte, wenn sich auf dem Wrack nichts Essbares befand. Steile Klippen versperrten den Weg landeinwärts. Anscheinend war die Insel unwegsam bis auf die schmale Bucht, in der sie Zuflucht gefunden hatte, und die breitere Bucht mit dem Strand und der Stelle, wo das Schiffswrack lag.
    Als sie nach einer Kletterpartie zerkratzt und zerstochen die Spitze der Landzunge erreichte, blickte sie keuchend und schweißüberströmt auf die angrenzende Bucht hinunter.
    Unten am Strand lag eine Leiche.
    Erschrocken ging Pirra hinter einem großen Felsbrocken in Deckung.
    Der Tote lag auf dem Bauch, Wellen schäumten um seine Fersen. Vermutlich ein ertrunkener Matrose, der an Land gespült worden war.
    Sie überlegte rasch. Tote auszurauben war ein schreckliches Verbrechen, aber der Mann dort unten trug eine Tunika, die sie in der Nacht warm halten würde. Und lag dort neben dem Toten nicht auch ein Messer?
    Unwillkürlich kam ihr ein weiterer, besonders widerlicher Gedanke. Sie musste unbedingt etwas essen. Konnte man einen Menschen essen? Roh?
    Pirra nahm ihren Mut zusammen und spähte abermals zu der Stelle hinunter.
    Der Tote war verschwunden.
    Einen Augenblick war sie gelähmt vor Schreck und stellte sich vor, wie die Leiche sich von hinten an sie heranschlich. Dann entdeckte sie den vermeintlichen Toten etwas weiter entfernt am Strand, wo er auf unsicheren Beinen umhertorkelte.
    Er war noch jung, und sie schnappte überrascht nach Luft, als sie in ihm plötzlich den lykonischen Bauernjungen erkannte, der sie angestarrt hatte, als sie sich das glühende Holz an die Wange gepresst hatte. Obwohl sein Haar inzwischen heller geworden war, gab es keinen Zweifel: Diese eng stehenden Augen und die Nase, die sich in fast gerader Linie von der Stirn aus fortsetzte, waren unverkennbar.
    Ihr Herz fing an zu pochen. Die Krähen waren hinter dem Jungen her.

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