Gods and Warriors - Die Insel der Heiligen Toten: Band 1 (German Edition)
musterte Pirra prüfend das Segel. »Wenn wir dieses Segeltuch weit genug unter ihn schieben«, sagte sie, »könnten wir ihn darauf vielleicht in dem Graben bis zum Ufer ziehen.«
Der Junge nickte langsam. »Dann liegt er allerdings wieder in der Sonne, und es ist beinahe Mittag. Wir brauchen unbedingt einen Sonnenschutz.« Er schnippte mit den Fingern. »Wacholderzweige.« Er löste den Dolch vom Gürtel und hielt zögernd inne. Vermutlich wollte er Filos nicht allein lassen, um den Wacholder zu schneiden, aber wenn er bei ihm blieb, musste er Pirra den Dolch anvertrauen.
»Hör mal«, sagte sie mit Nachdruck. »Filos braucht dich in seiner Nähe. Lass mich den Wacholder holen und gib mir den Dolch.«
Er blickte sie aus schmalen Augen an und warf die Waffe zu ihr hinüber. Sie fing sie geschickt mit einer Hand auf und war mächtig stolz auf sich. Leider bemerkte Hylas nichts davon, denn er war vollauf damit beschäftigt, Wasser über den Delfin zu gießen und Sand aus dem Graben zu schöpfen. Dabei sprach er ständig leise und aufmunternd auf Filos ein.
Die Wacholderzweige waren widerspenstig und zäh, ihre Stacheln richteten Pirra in kurzer Zeit übel zu. Trotzdem gelang es ihr, einige Zweige abzuhacken, die sie zu Hylas hinüberwarf. Er schien die Stacheln gar nicht zu spüren, als er daraus geschickt einen Sonnenschutz flocht, der Filos vor den sengenden Strahlen schützte. Anschließend schoben sie gemeinsam das Segel unter Filos’ Bauch, wobei sie ihn vorsichtig hin- und herrollten, während sie das Tuch Stück um Stück unter ihn bugsierten. Dann stemmten sie die Beine in den Sand und packten jeweils eine Ecke des Tuches.
Wenn es bloß nicht zerreißt, dachte Pirra.
»Zieh!«, rief Hylas.
Das Tuch spannte sich – und hielt das Gewicht. Filos half, so gut es ging, und wölbte trotz seiner Schwäche den Rücken.
Unversehens durchlief den Delfin ein kaum merkliches Zucken.
»Hast du das gespürt?«, stieß Pirra hervor.
Aber Hylas zog mit aller Kraft und gab keine Antwort.
Ein ums andere Mal zogen sie an dem Segel, und Filos krümmte dabei eifrig den Rücken.
Mit jedem Zug spürte Pirra, wie das Gewicht des Delfins ein wenig nachließ, während seine Schwanzflosse in die Brandungswellen tauchte und der Sog des Meeres bei seiner Rettung mithalf.
»Diesmal klappt es«, keuchte Hylas.
Plötzlich schlug Filos mit der Schwanzflosse aus. Der wuchtige Hieb traf Pirra in die Seite und beförderte sie in hohem Bogen in den Sand.
Sie setzte sich auf und umklammerte die schmerzende Stelle. Der Junge zog den zappelnden Delfin ins Meer. »Er ist drin!«, schrie er und verwundert sah sie zu, wie Filos vom Segel rollte und in den Wellen verschwand.
Die plötzlich eintretende, angespannte Stille wurde nur vom Anrollen und leise seufzenden Ablaufen der Brandung unterbrochen. Schaum benetzte den Sand und verwischte die Spuren des verzweifelten Kampfes, der soeben hier stattgefunden hatte.
Die Augen aufs Meer geheftet, fragte Hylas: »Alles in Ordnung mit dir?«
»Hmhm«, murmelte sie und richtete sich leise stöhnend auf. »Glaubst du, Filos hat es geschafft?«
Er gab keine Antwort.
Gemeinsam hielten sie angestrengt Ausschau, aber in der glitzernden, türkisblauen Bucht war nichts von dem Delfin zu sehen.
Sind wir zu spät gekommen? , dachte Pirra in einem Anflug von Panik. Hat er zu lange in der Sonne gelegen und treibt gleich bäuchlings auf dem Wasser?
Hylas machte ein finsteres Gesicht und schüttelte den Kopf. Offensichtlich hatte er denselben Gedanken.
Er steckte zwei Finger in den Mund und pfiff durchdringend. Nichts rührte sich.
»Filos!«, rief er. Dann watete er bis zur Hüfte ins Wasser, platschte mit der Handfläche sanft auf die Wellen und rief den Delfin ein zweites Mal beim Namen.
Pirra hielt den Atem an.
Eine Brise strich trübselig durch die winzige Bucht, eine Möwe flog dicht über dem Meer dahin und streifte mit den Flügeln beinahe die Wellen.
Plötzlich stieg eine mächtige Fontäne aus den Wellen empor – und dann sahen sie Filos, der hoch in die Luft sprang und dabei ohrenbetäubend quietschte.
Pirra ließ sich auf die Knie fallen. Hylas stand reglos da und hatte ihr den Rücken zugekehrt, aber sie sah, wie er sein Gesicht in den Händen verbarg.
Unterdessen schwamm Filos vor der Mündung der Bucht auf und ab, drehte sich hin und her, bevor er wieder abtauchte und dabei mit der Schwanzflosse wackelte. Er genoss es in vollen Zügen, wieder in seinem Element zu sein.
Hylas
Weitere Kostenlose Bücher