Gods and Warriors - Die Insel der Heiligen Toten: Band 1 (German Edition)
die Höhle erkundete. Im schwachen Schein der Fackeln kam ihr die Dunkelheit noch undurchdringlicher vor. Sie spürte bedrohliche Geister ringsum, zwischen der Welt der Lebenden und der Welt der Toten. Ob Hylas sie ebenfalls wahrnahm?
Er kroch eifrig herum, spähte in alle Ritzen und kniete nieder, um das schwarze Wasser, das zwischen ihren Füßen gluckste, zu prüfen. »Sehr gut«, murmelte er. »Hier unten können wir uns tagelang verstecken.«
»Nein, ausgeschlossen«, wandte sie sofort ein. »Die Höhle ist viel zu klein, die Luft wäre bald verbraucht.«
»Aber hier kommt doch frische Luft herein.« Er schnüffelte prüfend. »Außerdem riecht es salzig, vielleicht führt von hier aus ein Weg zum Meer.« Er schnippte mit den Fingern. »Als ich hier angekommen bin, habe ich vom Meer aus eine Höhle gesehen. Bestimmt kommt die frische Luft von dort.«
»Hylas …«
Er steckte bereits den Kopf durch die Lücke zwischen zwei steinernen Säulen. »Ich glaube, ich habe den Durchgang gefunden.« Ehe Pirra ihn daran hindern konnte, hatte er sich auch schon seitwärts zwischen den Säulen hindurchgezwängt und war verschwunden.
»Hylas!«, zischte sie entsetzt.
»Komm schon, hier ist die Höhle viel breiter.«
Sie biss die Zähne zusammen und folgte ihm.
Auch die andere Höhle war eng, feucht und zu niedrig, um darin aufrecht zu stehen.
»Wir verlaufen uns noch!«, protestierte Pirra.
»Keine Sorge, neben dem Eingang stehen hohe Felsen und ein roter Felsblock, der wie eine Hand aussieht. Wir finden schon wieder hinaus.«
»Warum willst du denn überhaupt tiefer in die Höhle?«
»Wir sollten unbedingt diese Schiffe im Auge behalten, sonst wissen wir nicht, ob sie weitergefahren sind oder direkt auf uns zusteuern …« Hylas’ Stimme klang gedämpft, und schon war er hinter der nächsten Biegung verschwunden.
Keuchend und geduckt eilte Pirra hinter ihm her. Im flackernden Schein des Fenchelstengels tauchten urplötzlich Felswände auf und Schatten glitten beiseite. Von fern hörte sie mit leisem Plink Wasser tropfen, ansonsten herrschte undurchdringliche, steinerne Stille.
Etwas strich an ihrem Fußknöchel vorbei, und sie unterdrückte einen Schrei.
Ein uralter, staubtrockener Kranz war zerbröselt, als sie ihn mit der Sandale gestreift hatte. Sie legte eine Hand auf ihren Siegelstein. Die Wände warfen das Echo ihrer Furcht zurück, im Dämmerlicht erkannte sie verwitterte, geflochtene Gerstengebinde aus längst vergangenen Sommern und Olivenblätter, grau wie der Tod. Sie waren nicht die ersten Besucher hier. Pirra musste an die Entschwundenen denken: Menschen, die vor langer Zeit auf der Insel gelebt und auf geheimnisvolle Weise verschollen waren.
Hin und wieder fiel ihr Blick auf schlichte tönerne Opfergaben in den Spalten und Ritzen: ein kleiner Vogel, ein Ochse, eine Schlange. Solche Gaben waren auch auf ihrer Heimatinsel üblich. Die Menschen begaben sich zu den Heiligtümern in den Bergen und brachten dort die ersten Erntefrüchte oder kleine Tiere aus Ton oder Bronze zum Opfer dar.
Auf einem Sims sah sie einen winzigen Delfin: Er lag auf der Seite, sein gemaltes Auge war verblichen und seltsam wach zugleich.
Weiter vorn nahm sie Hylas’ Fackel nur noch als schwachen Schein wahr.
Sie stellte den Delfin aufrecht hin und eilte hinter Hylas her.
Es war schrecklich gewesen, auf der Insel zu stranden, und am liebsten hätte sich der Delfin diesem Ort nie wieder genähert. Aber der Schwarm war irgendwo da drinnen, und er hörte am Quietschen seiner Artgenossen, dass ihre Kräfte nachließen.
Damit nicht genug, hatte die Insel auch noch den Jungen und das Mädchen verschluckt.
Der Delfin durfte sie nicht im Stich lassen, nicht nur, weil sie ihn gerettet hatten, sondern auch, weil er sie gern mochte, viel lieber als alle anderen Menschen, denen er bisher begegnet war. Er wollte nicht, dass ihnen etwas Schlimmes zustieß.
Besonders gern mochte er den Jungen. Selbst wenn er sehr beschäftigt war, platschte er trotzdem mit der Flosse auf die Wellen, sobald der Delfin in der Nähe war. Und wenn er heranschwamm, streichelte ihn der Junge und sprach zu ihm in seiner komischen, kiesigen Sprache.
Manchmal, wenn das Oben dunkel wurde und das Mädchen schlief, wanderte der Junge am Strand entlang oder stand reglos im Wasser, und der Delfin umkreiste ihn. Dann brauchten sie nicht zu reden, um sich zu verstehen. Junge und Delfin waren beide einsam und vermissten ihre Familien.
Wie schrecklich es war,
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