Gods and Warriors - Die Insel der Heiligen Toten: Band 1 (German Edition)
ein Mensch zu sein und immer in dieser bösen Hitze leben zu müssen! Ohne Seegraswälder, die in der Strömung sanft wogten und in denen sich saftige Brassen tummelten. Ohne tiefe, dunkle Jagdgründe, wo man ganz besonders laut und schnell klicken musste, um die Stachelrochen zu erwischen, die sich im Sand versteckten. Am liebsten hätte der Delfin den Jungen an der Flosse genommen, um mit ihm ins schimmernde Blau und das Schwarze Unten zu tauchen und ihm zu zeigen, was es hieß, ein Delfin zu sein, eins mit dem Meer.
Deshalb blieb der Delfin in der Nähe der Insel. Sorge, Mitleid und Liebe hielten ihn hier fest wie ein unsichtbares Band. Er musste seinen Schwarm finden und auf die beiden Menschen aufpassen.
Warum waren sie bloß in diesem Loch verschwunden?
Der Delfin hatte schon vor einer Weile verstanden, dass der Junge und das Mädchen sich versteckten, denn sie guckten bei der Arbeit an ihrem schwimmendem Stamm häufig aufs Meer hinaus, und er hatte ihre Furcht durchs Wasser knistern gespürt. Vielleicht, hatte er gedacht, verstecken sie sich vor anderen Menschen , und darin hatte er sich nicht getäuscht. Als er dem Jungen von den schwimmmenden Stämmen erzählt hatte, war der nämlich weggelaufen.
Aber wieso versteckten sie sich wie Aale in einem Loch? Und warum ausgerechnet in diesem Loch?
Es führte geradewegs zu den Singenden Echos, von denen alle Delfine wussten, auch wenn noch kein Delfin je dort gewesen war. An diesem Ort hatten Delfine nichts verloren, ebenso wenig wie Menschen übrigens. Dort durften nur die Singenden Echos und die armen, dünnen Geister sein – und manchmal auch die Große Leuchtende selbst.
Der Delfin schwamm durch die tückischen Strömungen vor der Höhle. Er fragte sich, was er tun sollte. Tief drinnen in der Höhle hörte er die gedämpften Menschenstimmen. Warum waren sie so weit hineingegangen? Wussten sie denn nicht, wie gefährlich es war?
Der Himmel war tiefblau, bald wurde es dunkel. Plötzlich spürte der Delfin eine neue Bedrohung. Er spürte sie in seinen Flossen und in seinem schmerzenden Unterkiefer. Er hatte Angst.
Jemand war zornig, und wenn Er zornig war, schlug Er mit seiner gewaltigen Schwanzflosse auf den Meeresboden und brachte Berge zum Einstürzen.
Der Delfin fürchtete Ihn mehr als alles andere.
Ihn, den Einen im Unten.
»Dort drüben«, flüsterte Hylas dicht neben ihr. »Siehst du die beiden Schiffe?«
Pirra nickte.
Nach dem dunklen Höhlenlabyrinth war diese große, zum Meer hin geöffnete Felskammer eine wahre Wohltat. Ein unterirdischer Fluss strömte hindurch, und es war kein Kinderspiel gewesen, sich dicht an die Wand gepresst und in ständiger Furcht, ins Wasser zu fallen, bis hierher vorzutasten. Vor der Felskammer schwamm Filos auf und ab und schnatterte aufgeregt. Hylas wusste nicht, ob es an den Schiffen oder an etwas anderem lag. Pirra hatte zuerst kaum Notiz von dem Delfin genommen. Als ihr Herz nicht mehr so heftig pochte, hatte sie gierig nach Luft geschnappt.
Hylas, der neben ihr stand, atmete langsam aus. »Die Schiffe kommen mir jetzt kleiner vor als vorhin. Sie entfernen sich.«
Pirra schirmte die Augen vor den roten Sonnenstrahlen ab und spähte zu den Flecken am Horizont hinüber. »Das sind keine Schiffe aus Keftiu«, verkündete sie, hörbar erleichtert.
»Woher weißt du das?«
»Die Segel haben die falsche Farbe, und der Bug ist anders geformt.«
»Du musst Augen wie ein Falke haben, wenn du das alles erkennen kannst.«
»Es sind auch keine Krähen, sondern phönizische Schiffe, glaube ich.«
»Woher weißt du eigentlich so viel über Schiffe, obwohl du nie aus diesem Tempel herausgekommen bist?«, fragte er argwöhnisch.
»Weil der Tempel der Göttin von oben bis unten bemalt ist, ganz einfach«, erwiderte sie gereizt. »Auf den Wandgemälden sind alle möglichen Schiffe aus Mazedonien, Achäa, von den Obsidian-Inseln, aus Phönizien und Ägypten abgebildet. Wie du weißt, hatte ich Zeit und Muße genug, um die Schiffe in aller Ruhe zu betrachten und sie mir einzuprägen.«
Eine Welle schlug gegen die Felsen. Sie wichen zurück und legten schützend die Hände um die Fenchelfackeln.
»Lass uns weitergehen«, sagte Hylas.
Pirra blickte ängstlich in die Dunkelheit, wo das aufgesperrte Höhlenmaul nur darauf wartete, sie zu verschlingen. »Gibt es keinen anderen Weg zurück?«
»Wo soll der sein?« Er deutete auf die Steilklippen und dann auf das Meer, das sich mit aller Kraft an die Felsen neben der Höhle
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