Gods and Warriors - Die Insel der Heiligen Toten: Band 1 (German Edition)
bleibt nichts anderes übrig.«
Das Wasser war eiskalt, die Steine unter Hylas Füßen gerieten bei jedem Schritt ins Rollen. Etwas glitt an seinem Knöchel vorbei. Der unheimlich gurgelnde Gesang rauschte in seinen Ohren und verschmolz mit dem Geräusch dahinströmenden Wassers, obwohl er keinerlei Strömung in dem stillen Teich erkennen konnte.
Je tiefer sie hineinwateten, desto kräftiger leuchtete das Blau, und schließlich befanden sie sich mitten darin: Das gleiche außerirdische Licht hatte die Delfine umhüllt, als sie ihn vor dem Hai gerettet hatten. Nun schimmerte seine eigene Haut so tiefblau wie der Schatten der Göttin.
»Von hier aus kommen wir nicht auf die Insel. Das Ufer ist zu steil«, flüsterte Pirra.
»Wir versuchen es auf der Rückseite der Insel«, flüsterte er zurück.
Als sie keine Antwort gab, drehte er sich fragend um. Pirra sah nicht mehr wie ein Mädchen aus, sondern wie ein Wassergeist mit blauem Gesicht, schwarzen Lippen und langem, gekräuseltem Haar.
Das Wasser reichte ihm plötzlich bis zur Brust. »Ich schwimme rüber zur Insel«, erklärte er mit klappernden Zähnen. »Du kannst dich notfalls dabei an meiner Schulter festhalten.«
Von Nahem wirkten die Säulen auf der Insel noch kolossaler. Manche waren gedrungen und breit, andere ragten hoch und dünn empor.
Die beiden hielten die Köpfe gesenkt und die Arme fest an die Seiten gepresst.
Pirras Hand grub sich tief in Hylas Schulter. »Wenn sie sich bewegen …«, hauchte sie.
Der Spalt in der Decke war breiter, als sie gedacht hatten. Wenn es ihnen gelang, dort hinaufzuklettern, konnten sie bestimmt ins Freie gelangen.
Hylas schwamm langsam, um das stille Wasser nicht aufzuwirbeln. An der Rückseite der Insel befand sich eine einladend flache Stelle. Seine Füße stießen gegen Stein.
Plötzlich bohrten sich Pirras Fingernägel in seine Haut. »Hylas«, zischte sie. »Sieh doch! Sie ist hier!«
Er hob den Kopf.
Der Weg nach draußen war versperrt.
Doch es waren nicht die steinernen Wächter, die sie daran hinderten, die Höhle zu verlassen.
Es war die Göttin selbst.
S ie stand dort seit vielen Sommern und Sie würde auch noch viele, viele Sommer dort stehen. Die Große Göttin. Die Herrin der Wildnis. Die Allmächtige.
Ihre Arme unter den spitz zulaufenden Steinbrüsten waren gekreuzt, Ihr glattes, ovales Gesicht schimmerte weiß wie Mondlicht. Menschliche Hände hatten Ihre starren Augen blutrot bemalt und Ihr Abbild hier aufgestellt, damit Sie bei Ihren Besuchen dem Marmor Leben einhauchte.
Pirra stiegen Tränen in die Augen. Im Tempel der Göttin hatte sie Ihre Gegenwart niemals so deutlich gespürt. Die göttliche Vollkommenheit war schier unerträglich.
Hylas stand wie gelähmt neben ihr.
»Du darfst Sie nicht so lange ansehen«, flüsterte sie. »Ihr Anblick macht einen blind, als würde man zu lange in die Sonne blicken.«
Er befeuchtete die Lippen und deutete dann auf den Spalt in der Decke. »Wie kommen wir dort hinauf?«
Sie sah ihn ungläubig an. »Überhaupt nicht! Niemand darf Ihr so nahe kommen.«
»Aber sonst gibt es keinen Weg hinaus. Wir könnten versuchen, von der am weitesten entfernten Säule aus ins Freie zu klettern.«
Pirra schluckte. Steinschlangen ringelten sich um die Füße der Göttin, die auf einem Haufen bleicher Knochen stand, vielleicht Opfergaben einstiger Bittsteller oder sogar deren sterbliche Überreste. Der Weg hinaus führte, unter dem wachsamen Blick der Steinwächter und der Göttin, über diese Knochen hinweg …
Trotzdem hatte Hylas recht. Ihnen blieb keine andere Wahl.
»Zuerst müssen wir ein Opfer bringen«, murmelte sie. »Sonst lässt Sie uns nicht gehen.« Noch während sie sprach, nestelte sie bereits an ihrem Schmuck. Da es ihr nicht gelang, das Armband abzustreifen, riss sie sich die restlichen Spangen von der Tunika und drückte die Hälfte davon Hylas in die Hand. »Wir legen das Opfer bei den Steinschlangen nieder. Bitte Sie stumm, dich gehen zu lassen – und sieh Ihr dabei nicht in die Augen!«
Knochen knirschten unter ihren Füßen, als die beiden sich an den Aufstieg machten. Pirra spürte förmlich den erbarmungslosen Blick der Leuchtenden und widerstand dem Drang, zu Ihr aufzusehen.
Zwischen den Knochen lagen Mohnsamen, Muscheln und morsche Vogelflügel. Erde, Wasser und Luft, dachte Pirra. Die Bittsteller hatten gewusst, was zählte.
Das Gold klirrte kalt und seelenlos, als sie es ablegten. Der murmelnde Gesang schwoll an. Blaues Licht
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