Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gods and Warriors - Die Insel der Heiligen Toten: Band 1 (German Edition)

Gods and Warriors - Die Insel der Heiligen Toten: Band 1 (German Edition)

Titel: Gods and Warriors - Die Insel der Heiligen Toten: Band 1 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Paver
Vom Netzwerk:
Welt war noch nicht untergegangen.
    Sie befühlte den Boden unter sich und stieß zu ihrer Überraschung auf etwas Schmales, Längliches, das sich wie ein polierter Knochen anfühlte. Dann entdeckte sie eine Tonscherbe, in deren Mitte sich ein Loch befand. Ein Webgewicht. Im Tempel der Göttin banden die Frauen die Fäden an solchen Gewichten zusammen, damit sie straff am Webstuhl hingen. An windigen Tagen schlugen die Gewichte mit leichtem Klackern aneinander, ein Geräusch, das ihre ganze Kindheit begleitet hatte.
    Wie kam dieses Gewicht hierher? Es war nicht üblich, den Göttern Webgewichte zu opfern.
    Plötzlich keimte ein leiser Verdacht in ihr, den sie jedoch entschlossen beiseiteschob.
    Ihre Hände erkundeten die gesamte Höhle, ohne den kleinsten Spalt zu erspüren. Sie war gefangen. Prompt fing ihr Herz erneut zu hämmern an, dennoch ließ sie die Zehen tastend über die Rückwand gleiten.
    Ein Spalt. War er groß genug, um sich hindurchzuzwängen?
    Wie ein Aal wand sie sich rückwärts in die Lücke hinein. Die Spange ihrer Tunika kratzte über die Steindecke und sie blieb für einen Schreckensmoment stecken. Dann befreite sie sich mit einem Ruck und stürzte, halb fallend, halb rutschend, einen Schotterhang hinab in die Tiefe.
    Sie landete schweißnass und nach Luft schnappend.
    Hier – wo immer sie gelandet war – hatte sie etwas mehr Platz, außerdem konnte sie schwache Umrisse erkennen.
    Sie befand sich in einer langen, schmalen Höhle, auf deren Boden sich seltsame Hügel aus gelblichem Stein wölbten. Pirra berührte die niedrige Decke. Dunkelrot und von Furchen durchzogen glich sie einem riesigen Maul. Etwa dreißig Schritte entfernt fiel ein schmaler Lichtkeil in die Höhle.
    Pirra leckte sich nervös die Lippen. Konnte sie durch diese Ritze nach draußen gelangen?
    Aufgeregt machte sie sich auf den Weg. Da sie in der Höhle nicht einmal krabbeln konnte, robbte sie auf den Ellenbogen voran und stieß sich mit den Zehen ab. Als sie versuchte, sich an einem der gelben Hügel vorwärtszuziehen, rutschte sie an der glatten Oberfläche ab. Sie tastete und fand einen Sporn, der besseren Halt bot.
    Pirra griff danach …
    … und erstarrte.
    Das war eine Hand.
    Eine versteinerte Hand.
    Mit einem Aufschrei zuckte sie zurück und befand sich Auge in Auge mit einem menschlichen Kopf.
    Das Gestein umschloss den Schädel wie zäher Schlamm, und hatte Fleisch und Knochen für immer versiegelt. Der Mund des Menschen war in einem stummen Schrei erstarrt. Steinaugen starrten sie hungrig an.
    Entsetzt begriff sie, was es mit den gelben Hügeln auf sich hatte: Sie war über versteinerte Leichen gekrochen.
    Sie lagen überall in der schmalen Höhle, Männer, Frauen und Kinder, für immer erstarrt im Todeskampf, während sie, übereinander hinwegkriechend, versucht hatten, ins rettende Licht zu kommen. Das also war das lang gehütete Geheimnis um die Entschwundenen. Sie hatten sich offenbar in den Höhlen versteckt und genau wie Hylas und Pirra hier Zuflucht gesucht. Dann hatte der Erderschütterer die Decke zum Einsturz gebracht und die Zufluchtsuchenden lebend begraben.
    Als die Erde zu beben anfing, war ihnen vielleicht noch Zeit geblieben, etwas von ihrer Habe zu holen, was den Becher und die anderen Gegenstände erklären würde, die Pirra entdeckt hatte. Hier unten war ihnen auch genügend Luft zum Atmen geblieben und Wasser, das sie von den Steinen abgeleckt hatten. Möglicherweise hatten sie tagelang überlebt, aber sie hatten von Anfang an gewusst, dass sie niemals herauskommen würden.
    Pirras Körper spannte sich an. Um den Spalt zu erreichen, musste sie über die Toten hinwegkriechen, ohne sie aus ihrem langen Schlaf zu wecken.
    Mit zusammengebissenen Zähnen tastete sie sich behutsam voran, gelegentlich fiel ein Lichtstrahl auf die grässliche Szenerie, beleuchtete einen Hilfe suchend ausgestreckten Arm oder ein eng an die Brust gezogenes Knie. Sie erblickte gespreizte, versteinerte Finger und aufgerissene Münder, die sich nie wieder schließen würden.
    Im Vorüberkriechen schien ihr Schatten die Verstorbenen zum Leben zu erwecken. Reckte sich die steinerne Hand dort nicht nach ihrem Knöchel? Sie quetschte sich rasch zwischen zwei Toten hindurch, die einander zugewandt und mit ausgestreckten Armen auf dem Boden lagen. Ihre Tunika verfing sich, und als sie sich ungeduldig vorwärtsschob, brach einer der Steinfinger mit mürbem Knirschen ab.
    Ein leises Flüstern hallte durch die Höhle.
    Pirras Mund

Weitere Kostenlose Bücher