Gods and Warriors - Die Insel der Heiligen Toten: Band 1 (German Edition)
ließen nach, nicht aber das tödliche Bedürfnis, Luft zu holen.
Er vernahm ein dumpfes Röhren und sah weiße Wellen zusammenschlagen. Dann schossen sie an die Oberfläche empor, und Hylas schnappte verzweifelt und tief nach Luft. Keuchend und zitternd sackte er auf dem Leib des Delfins zusammen, der ihn vorsichtig bis an einen Strand trug. Hylas hörte das ruhige, gleichmäßige Pfft! und ihn durchfuhr eine schmerzliche Erkenntnis: Diese Tortur, die ihn beinahe das Leben gekostet hätte, war für Filos nur ein kurzer Tauchgang gewesen.
Als sie das Ufer endlich erreichten, glitt Hylas auf das Seegras und spürte, wie die Brandung ihn sanft wiegte. Salz brannte in seinen Augen, und der Kopf tat ihm weh.
Als er wieder einen klaren Gedanken zu fassen vermochte, fielen ihm die Krähen ein, und er stützte sich mühsam auf einem Ellenbogen auf.
Filos hatte ihn zu einer kleinen Bucht gebracht, die durch dichtes Ginstergestrüpp vor Blicken geschützt war. Hylas kannte die Bucht nicht, aber sie schien ein gutes Versteck zu sein. Auch von den Krähen war nichts zu sehen. Er dachte an Kratos, Telamon und den Dolch und es kam ihm vor, als habe ein anderer das alles erlebt.
Filos stupste vorsichtig mit der Schnauze gegen seine Zehen. Vermutlich war das seine Art, sich zu entschuldigen. Ich wusste nicht, dass du nicht Unterwasser sein kannst wie ich. Verzeih mir.
Unbeholfen streckte Hylas den Fuß aus und erwiderte die Geste.
Er wollte Filos sagen, dass er ihn verstand und dass es ihm ebenfalls leid tat.
Aber er war nicht schnell genug. Filos war bereits abgetaucht.
Friede mit dir , sagte Telamon stumm zu Hylas, während er einen Schwarzpappelzweig auf das Bestattungsfeuer seines Onkels warf.
Durfte er um seinen Freund trauern, während er den eigenen Onkel beerdigte? Würden die Götter ihn erhören?
Bis zu dem Augenblick, als er und das Mädchen die blutigen Tunikafetzen am Strand gefunden hatten, hatte er gehofft, dass Hylas noch am Leben war. Im Grunde glaubte er immer noch nicht an den Tod seines Freundes. Hylas sollte nie zurückkommen? Ausgeschlossen.
Knisternd verzehrten die Flammen das ölgetränkte Treibholz und machten sich dann über die Leiche her.
Nach dem Wolkenbruch gestern war der Himmel wieder klar und das Meer glatt wie Milch. Blinzelnd stand Telamon im Sonnenschein. Der fettige Geruch nach verbranntem Fleisch kroch ihm in die Kehle, und er wandte den Kopf zum Ufer, wo die Wellen betrübt an den Kieselstrand schlugen. Irgendwo dort draußen trieb Hylas, und sein Geist musste ohne Ritual den Weg finden.
Telamon nahm eine Handvoll Asche vom Boden und beschmierte sich damit das Gesicht. Das Brennen tat ihm gut. Er hatte das Bedürfnis, sich zu bestrafen. Alles war seine Schuld. Hätte er sich nicht mit Hylas an dem Wrack verabredet, wäre Kratos noch am Leben. Und Hylas auch.
Aus der Ferne beobachteten ihn die Männer mit neuem Respekt. Sie hatten gesehen, wie er den Dolch aus den erstarrten Fingern seines Onkels wand und sich jetzt Asche ins Gesicht rieb. So war es in ihren Augen richtig: Der junge Verwandte trat die Nachfolge des Toten an.
Telamon wusste, dass er stolz sein sollte. Schließlich hielt er den Dolch in der Hand, das kostbarste Erbstück seiner Familie. Stattdessen empfand er nur Scham.
Es half auch wenig, dass er auf der Rückfahrt nach Lykonien den Befehl über die Männer haben würde. Er fühlte sich der Aufgabe nicht gewachsen und vermutlich wussten die Männer das ebenso gut wie er. Ein dreizehnjähriger Junge sollte erfahrenen Kriegern Befehle erteilen?
Ilarkos, Kratos’ Stellvertreter, hatte Telamon gestern gefragt, ob sie die Leiche seines Onkels hier verbrennen oder nach Lykonien überführen sollten, um sie dort, wie üblich, an der Stätte der Ahnen zu begraben. Telamon war unschlüssig gewesen. Er wollte lieber verschweigen, dass er Leichenverbrennungen ebenso abscheulich fand wie die anderen Rituale seines Onkels. Schließlich hatte Ilarkos die Entscheidung getroffen.
»Dann bist du jetzt also ein Held«, erklang eine höhnische Stimme hinter ihm.
Telamon blickte sich gereizt um.
Dieses Mädchen aus Keftiu sah aus wie ein struppiger, kleiner Falke. Sie war völlig verschmutzt. Trotz ihrer Freude über das Wiedersehen mit dem ägyptischen Sklaven, der auf Befehl ihrer Mutter mitgekommen war, hatte sie die saubere Tunika verschmäht, die er ihr angeboten hatte. Außerdem fand er es abstoßend, dass sie ihr Haar straff zurückgebunden trug, damit bloß niemand
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