Godspeed Bd. 1 - Die Reise beginnt
nicht diese Medipflaster-Dinger?«, frage ich.
»Medipflaster helfen nur bei einfachen Problemen wie Kopf- oder Bauchschmerzen. Aber das hier ist viel ernster.«
»Aber keiner von den anderen hat drei Zugänge«, versucht sich Steela zu wehren.
Im Raum ist es so still, dass ich fast vergessen habe, dass wir nicht die Einzigen sind. Die alten Leute in den anderen Betten starren ergeben an die Decke. Versorger. Aber Steela hat recht, die anderen sind nur an zwei Tropfe angeschlossen – einer an der linken Hand, der andere am linken Unterarm.
»Der dritte ist etwas Besonderes für besondere Leute.«
»Blödsinn.«
Der Doktor lächelt aufgesetzt. »Es liegt daran, dass du hier die Einzige bist, die Psycho-Pillen nimmt.«
Steela beißt sich auf die Lippe. Genau wie Junior glaubt auch sie, dass sie so verrückt ist, wie der Doktor es ihr schon ihr ganzes Leben lang eingeredet hat. Und jetzt ist sie verunsichert – jetzt glaubt sie, dass sie hierher gehört, eingesperrt bei den anderen, die willenlos vor sich hin starren.
»Sie haben sie noch gar nicht untersucht«, sage ich.
»Hmmh?« Der Doktor schaut nicht auf und desinfiziert weiter Steelas Arm.
»Sie stechen Nadeln in sie und hängen sie an den Tropf und haben sie nicht einmal vorher untersucht. Was geht hier vor?« Meine Stimme ist ungewöhnlich laut und tief. Ob der Doktor wohl weiß, dass ich nur dann so klinge, wenn ich kurz davor bin, richtig sauer zu werden?
»Die Schwester am Empfang hat mich über die Situation informiert.«
»Welche Situation?«, frage ich und funkele ihn eisig an. Das hätte ich mir sparen können, denn er schaut ohnehin nicht auf. Steela beobachtet uns jedoch.
»Sie hat Wahnvorstellungen. Wie alle anderen hier.« Zügig schließt er die beiden Tropfflaschen an Steelas linkem Arm an und geht mit der dritten Nadel auf ihre rechte Seite. Er kneift die Haut in ihrer Ellbogenbeuge zusammen und rammt die »besondere« Nadel tief in die dicke, dunkelblaue Vene. Steela stöhnt vor Schmerzen auf.
Obwohl der Doktor behauptet hat, ihr eine Nährlösung zu verabreichen, fließt ein stetiger Strom von Steelas Blut in den leeren Beutel am Ende des Schlauchs.
Ich denke nicht nach und ramme den Doktor so hart mit der Schulter, dass er zurücktaumelt und gegen die Wand kracht. Ich drücke ihn mit dem Unterarm an die Wand. Auch wenn ich nicht so groß bin wie er, kann ich trotzdem Bärenkräfte entwickeln, wenn ich wütend bin.
»Was machen Sie da?«, schreie ich ihm ins Gesicht. »Sie haben gesagt, es wäre eine Nährlösung, aber das stimmt nicht. Wieso lügen Sie ständig? Was haben Sie zu verbergen?«
Als ich damit fertig bin, ihn anzuschreien, erfüllt Stille den Raum. Die neun anderen Patienten starren immer noch Löcher in die Luft und haben nicht mitbekommen, was los war.
Aus dem Augenwinkel sehe ich Steela blinzeln. Sie starrt ebenfalls geradeaus, und auch sie hat mein Geschrei anscheinend nicht wahrgenommen, obwohl ich nur einen Meter von ihr entfernt stehe.
»Steela?«, flüstere ich.
Nichts.
64
Junior
Wir sind zurück im Lernzentrum, und mein Kopf fühlt sich so hohl an wie das Modell der Godspeed im Archiv, denn jetzt haben wir beide keinen Antrieb mehr, der uns durchs Leben befördert.
»Zweihundertfünfzig Jahre hinter dem Zeitplan?«, frage ich. Die Worte dröhnen in meinem Kopf und ersetzen das Brummen der Maschine, das ich immer noch in den Ohren habe.
Der Älteste zuckt mit den Schultern. »Ungefähr. Eigentlich sollten wir vor rund hundertfünfzig Jahren landen – jetzt sieht es so aus, als würde es frühestens in hundert Jahren klappen. Vielleicht. Wenn das Brennstoffsystem durchhält. Und wenn nichts anderes schiefgeht.«
»Und wenn etwas anderes schiefgeht?«
»Dann treibt das Schiff führerlos im All. Bis die Reaktoren abkühlen. Dann geht die Solarlampe aus und wir sitzen im Dunkeln. Und dann sterben die Pflanzen und danach sterben wir alle.«
Auf dem Schiff sind wir immer zusammen, und wegen dieser Nähe legen wir besonderen Wert auf unsere Privatsphäre und darauf, auch einmal allein zu sein. Aber bisher ist mir nie bewusst geworden, wie allein wir tatsächlich auf diesem Schiff sind. Es gibt niemanden außer uns. Ich hatte immer das Gefühl, fest zwischen den beiden Planeten verankert zu sein, so als wären sie an entgegengesetzten Enden einer Schnur aufgefädelt. Aber das ist falsch. Wenn wir es nicht schaffen, wird niemand kommen, um uns zu retten. Wenn wir sterben, wird niemand da sein, der um
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