Godspeed Bd. 1 - Die Reise beginnt
das Schiff landen wird, aber ich wette, wenn ich Harley fragen würde, könnte er mir nicht nur die Jahre (49) und Tage (267) bis zur Landung nennen, sondern auch die Minuten und Sekunden.
Ich weiche der spritzenden Farbe aus und schaue an Harley vorbei, um zu sehen, was er malt. Es ist ein Koikarpfen, der in einem leuchtend blauen Meer schwimmt, aber das Licht der Fischschuppen und das Funkeln des Wassers vermischen sich, als wäre der Fisch Teil des Wassers und das Wasser Teil des Fischs. Harley hat diese unglaublichen Farben verwendet, auf die kein anderer kommen würde. Die Augen des Fischs sind leuchtend grün, mit etwas Gelb, wie mit Gold vermischte Jade. Die Schuppen sind hell und glänzend, aber sie haben blutrote Ränder, was eigentlich nicht zu den hellen Farben passt – aber hier harmoniert es perfekt. Das Rot macht das Ganze irgendwie echter, als könnte das Wasser aus der Leinwand sprudeln und der Fisch an unseren Füßen vorbeischwimmen.
»Das gefällt mir«, sage ich nach einer ganzen Weile zu Harley. »Das ist mein Ernst, richtig klasse.«
Harley grunzt nur. Er ist in Mallaune, und da hat es wenig Sinn, mit ihm zu reden. Auch wenn Doc ihn demnächst aufspürt, wird er ein Problem haben, ihm seine Medikamente zu geben.
Rund um mich herum herrscht gelindes Chaos. Der ganze Raum sprüht nur so vor Kreativität und Kunst. Eigentlich ist das hier ein echt starker Ort. Im Moment allerdings nicht so sehr, weil alle mit ihrem eigenen Kram beschäftigt sind. Ich komme mir ein bisschen überflüssig vor, weil ich nur herumstehe, während alle anderen in ihre Arbeit vertieft sind.
»Man sieht sich«, sage ich, aber Harley hört es nicht einmal.
Ein leichtes Schuldgefühl zwickt mich im Magen, als ich wieder in den Fahrstuhl steige und in den vierten Stock fahre. Der Älteste wollte, dass ich die dritte Ursache für Unfrieden rauskriege, und darum kümmere ich mich definitiv nicht.
Aber Lügen führen auch zu Unfrieden , denke ich mürrisch, als die Fahrstuhltür aufgleitet.
Der vierte Stock ist menschenleer. Ich gehe an den Türen links und rechts vorbei bis ans Ende des Flurs. Dort lege ich die Hand auf den Türknauf. Die Tür wird verschlossen sein. Die Türen im vierten Stock sind alle verschlossen. Ich war früher schon mal hier und habe es ausprobiert.
Aber der Knauf dreht sich in meiner Hand, genau wie Orion gesagt hat. Dahinter befindet sich ein kleiner Raum mit einem Schreibtisch, einer Box aus Metall und an der gegenüberliegenden Wand –
Ein zweiter Fahrstuhl.
Über dem Rufknopf ist ein biometrischer Scanner. Ich rechne fest damit, dass er blockiert sein wird. Der Älteste hat mich bereits aus seiner Kammer und dem Maschinenraum auf dem Technikdeck ausgesperrt. Obwohl ich eigentlich Zugang zu allen Teilen des Schiffs haben sollte, bin ich sicher, dass der Älteste mir auch hier den Zugang versagen würde, wenn er wüsste, was ich gerade mache. Aber als ich meinen Daumen auf den Scanner drücke, gleiten die Türen sofort auf.
Im Fahrstuhl gibt es fünf Knöpfe. Einen für jedes Deck und einen weiteren, der mit K beschriftet ist. K? Was soll das sein? Ich rufe mir das Diagramm wieder ins Gedächtnis, das Orion mir gezeigt hat. Da war ein Abschnitt markiert mit »Kühllager«, aber dieser Fahrstuhl fährt dort nicht hin, er fährt in den Bereich, der mit »Lager – Wichtig« beschriftet war. Ich lege den Zeigefinger auf den K-Knopf, drücke ihn jedoch nicht, sondern fühle nur die Striche des Buchstabens. Wie kann es einen weiteren Fahrstuhl geben, ein weiteres Deck ?
Ich lehne mich nach vorn und drücke mein ganzes Körpergewicht gegen den Knopf. Die Türen gleiten zu. Das kleine Licht über den Türen blinkt bei jedem Deck. Drei. Zwei. Eins.
Das Licht erlischt. Ich fahre am Erdgeschoss vorbei und zähle die Sekunden. Ich starre auf die Knöpfe an der Tür, aber das »K« leuchtet immer noch nicht auf. Der Fahrstuhl fährt immer noch abwärts. Es dauert schon doppelt so lange, wie die Fahrt von einem Deck zum nächsten normalerweise dauert … dreimal so lange. Eine volle Minute vergeht. Wie groß ist die Godspeed wirklich?
Mit einem leichten Ruck hält der Fahrstuhl an.
Die Türen öffnen sich.
Ich hole tief Luft und betrete ein Deck des Schiffs, das es eigentlich gar nicht geben dürfte.
Es ist dunkel. »Licht«, befehle ich und aktiviere meine Dra-Kom, aber es passiert nichts.
Die Fahrstuhltüren schließen sich mit einem Zischen und damit ist auch diese matte Lichtquelle
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