Godspeed Bd. 2 - Die Suche
sie. »Nicht!«
Sie meint den Schalter. Diesen hier, neben meiner Hand.
Der die Türen der Brücke versiegelt.
Der uns vor dem Weltraum schützt – sie aber zum Tode verurteilt.
Sie streckt mir eine Hand entgegen, flehend , aber sie ist zu weit weg. Sie ist nur ein kleines bisschen zu weit weg und ich werde sie nicht retten können. Es ist zu spät. Zu spät.
»Nein, nein, nein, nein, nein«, fleht sie.
Ihre Finger sind fast in meiner Reichweite. Wenn ich den Arm ganz ausstrecken würde – könnte ich sie dann in Sicherheit bringen, bevor ich die Türen verriegle?
Aber ich kann dieses Risiko nicht eingehen. Ich darf nicht das ganze Schiff gefährden, um eine einzelne Person zu retten.
»Nein«, wispert sie.
Aber ich lege den Schalter trotzdem um.
Die Türen der Brücke schließen sich.
Der furchtbare Wind legt sich.
Es dauert einen Moment, bis die Überlebenden sich wieder aufrappeln. Einige bluten – verursacht von herumfliegenden Teilen. Doch schlimmer als die körperlichen Verletzungen ist das Entsetzen, das ihre Gesichter verzerrt, ein fassungsloser Ausdruck des Schocks, der vermutlich niemals wieder ganz verschwinden wird.
Es ist still hier, aber längst nicht so still wie auf der anderen Seite der Tür.
58
Amy
Ich bin noch nie so schnell gerannt wie auf dem Weg vom Krankenhaus zur Schwerkraftröhre. Und dennoch wusste ich, dass ich zu spät kommen würde.
Und so war es auch.
Als ich endlich am Maschinenraum ankam, konnte ich die Explosion hinter der Tür hören.
Und die Schreie.
Das Technikdeck – das ausgerechnet heute brechend voll ist – verfällt in eine Art Schockstarre. Die Leute drängen sich im Energieraum zusammen. Die Tür zum Maschinenraum ist nach innen verbogen, als hätte ein Monster versucht, sie herauszureißen. Trotzdem weichen wir alle zurück bis an die hintere Wand. Einige Leute fliehen aus dem Energieraum, um irgendwo Deckung zu suchen, als würde die Godspeed sie auch dann noch beschützen, wenn sie in Stücke gerissen wird.
Wir alle starren die Tür an, aber sie gibt uns keine Antworten.
Am Fußboden und an der Decke blinken rote Lichter. Der Schiffscomputer verkündet mit einer angenehmen, fast fröhlichen Stimme: »Bruch der Außenhülle: Brücke.«
Wir warten. Eine Frau öffnet den Mund, um etwas zu sagen, aber ich bringe sie mit einem Blick zum Schweigen. Wir alle lauschen. Und fragen uns, ob auf der anderen Seite der Tür noch jemand am Leben ist.
Ob Junior noch am Leben ist.
Etwas schlägt gegen die Tür. Hinter mir schreit eine Frau auf. Die Tür bewegt sich wieder – aber nicht mit der Wucht eines Tornados wie zuvor, sondern diesmal rüttelt etwas an ihr.
An den Rändern der Tür tut sich ein Spalt auf.
»Sie leben!«, schreit die Frau. Und wie auf Kommando springen wir alle vor und zwängen unsere Finger in den Spalt. Gemeinsam zerren wir an der beschädigten Tür. Sie öffnet sich einen Zentimeter. Wir strengen uns noch mehr an. Mit einem protestierenden Kreischen gibt die Tür schließlich nach und geht auf.
Als Erstes sehe ich das Blut an ihm – es tropft aus einer Schnittwunde an seiner Schulter und färbt seine dunkle Haut rot. Seine Haare kleben ihm schweißnass an der Stirn. Mit einem Arm schiebt er die Tür ein Stück weiter auf und taumelt hindurch.
»Junior«, flüstere ich. Meine Stimme bricht. In meinen Augen brennen Tränen. Ich hätte ihn beinahe verloren. Schon wieder. Erst, als ich gestern seinen Körper auf dem Boden der Außenluke liegen sah, wurde mir bewusst, wie viel er mir bedeutet, aber selbst da hätte ich meine Gefühle für ihn nicht in Worte fassen können.
Ein Teil von mir war von Anfang an misstrauisch, als klar wurde, wie verliebt er in mich war. Dieser Teil hat mir Worte zugeflüstert, Worte wie Zweifel und kann ihm nicht trauen und Begehren und ist es nicht wert . Und jetzt verfliegen all diese Worte.
Ich sehe in sein von Trauer gezeichnetes Gesicht und denke gar nichts mehr.
Hinter ihm helfen die Techniker einander auf die Beine. Sie weinen vor Freude über die, die überlebt haben, und trauern um die, die hinter der versiegelten Tür der Brücke gestorben sind.
Aber ich habe nur Augen für Junior und er hat nur Augen für mich, und alles andere verschwindet einfach.
Meine Hände zittern. Meine Beine auch – eigentlich zittere ich am ganzen Körper. Ich will zu ihm stürzen, aber ich kann mich nicht bewegen. Also macht er den ersten Schritt. Er kommt durch die verbogene Tür und schlingt die Arme
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