Goebel, Joey
allein in seinem Versteck saß und für die Außenwelt nicht mehr existierte, der er nicht zu fehlen schien. Im Dunkeln fühlte er sich ganz wie er selbst. Er fühlte sich frei, und im Schrank konnte er sich auch selbst besser leiden. Wenn er in der Schule saß und an einem Bleistift kaute, freute er sich auf die stillen Momente, die sich später am Nachmittag in der verheißungsvollen Dunkelheit einstellten.
[400] Als John zwölf war, wurde sein Schrank allmählich zu eng für ihn, weil er ihn nach und nach mit Spielsachen vollstopfte, für die er inzwischen zu alt war. Er interessierte sich immer eher für Sport als für Spielsachen. Bald probierte er andere Schränke aus und fand heraus, dass der Schrank seiner Eltern für sein morbides Hobby genauso gut geeignet, ja sogar noch reizvoller war, denn eigentlich hatte er dort nichts zu suchen. Es war ein großer, begehbarer Schrank, in dem er sich aber dennoch geborgen fühlte, denn er war mit Kleidung, Schuhen und Dokumenten zweier Erwachsenenleben gefüllt. An der Rückwand lehnten etliche von Henrys Gewehren und sogar eine Pistole, die John gern in die Hand nahm.
Beim fünften und letzten Mal, als John sich heimlich in dem elterlichen Schrank verkroch, hörte er plötzlich, wie jemand anders das Zimmer betrat. Das Herz klopfte ihm bis zum Hals, als er durch die schmale Ritze zwischen den Schiebetüren hindurch Trish, das kapriziöse junge Hausmädchen, auf der Bettkante sitzen sah. Sie schnüffelte an ihren eigenen Achseln, und John musste ein Lachen unterdrücken.
Der Lachdrang erstarb und blieb noch tagelang tot, als John sah, wie sein Vater eintrat, die Tür hinter sich zumachte und abschloss. Was folgte, ließ John so komplett erstarren, dass er sich nicht hätte abwenden können, selbst wenn er es gewollt hätte. Das schlanke, aschblonde Hausmädchen hatte sich ganz ausgezogen und John so den ersten Anblick einer komplett nackten Frau ermöglicht. Sein Vater löste mit einer abrupten Bewegung seinen Gürtel und ließ Hose und Boxershorts fallen; der untere Hemdrand verhinderte, dass John die zentralen Stellen seiner Anatomie zu sehen bekam. [401] Bisher hatte John nur Straßenköter bei so etwas beobachtet. Die Hunde hatten eine ähnliche Stellung eingenommen, aber weniger wütend gewirkt. John fand, dass die beiden aussahen und klangen, als würden sie sich gegenseitig töten und dann in aggressivem Einklang sterben. Was er sah und was es bedeutete, machte ihm Angst, und er hätte am liebsten geweint, konnte aber nicht. Er merkte, wie er steif wurde. Bald waren sie fertig, und Henry zog die Hose hoch und ging, ohne dass einer der beiden ein Wort gesagt hätte.
Diese Bilder hatten John noch wochenlang gequält, doch es gelang ihm, das durch sie geweckte schauderhafte Gefühl zu verinnerlichen – ein struppiges Tier aus Abscheu, Verwirrung und Neugier. Für Henry und Elizabeth benahm sich John nicht weiter ungewöhnlich, höchstens dass er neuerdings zu langen Fahrradtouren aufbrach, die manchmal bis zu drei Stunden dauerten. Er mache Erkundungsfahrten, erklärte er, als sie ihn fragten – es war der Beginn eines erbärmlichen Lebens voller Halbwahrheiten.
»Blue Gene!?«, rief Bernice, als sie in einem verblichenen alten Bademantel die Fliegengittertür öffnete. Sie lächelte, bis sie seine angespannte Miene bemerkte. »Was ist passiert?«
»Nichts.« Ein intensiver Rauchgeruch umfing ihn, als er das winzige, mit hellblauem Teppichboden ausgelegte Wohnzimmer betrat, wo ein durchgeknallter Pudel sein Bein besprang. In dem Haus war es zwar relativ kühl, weil allein in diesem Zimmer drei elektrische Ventilatoren liefen, aber dennoch stickig.
»Shasta!«, schrie Bernice den Pudel an. »Bleib ihm vom Leib!«
[402] »War mein Bruder… war John hier?«
» Nein. Warum sollte er?«
Eine fette, graue Katze sah sich die Krimiserie Law & Order: New York an, die aus dem mittelgroßen Fernseher so laut dröhnte, dass sie trotz des Lärms der Ventilatoren zu hören war. Als Blue Gene der Katze zu nahe kam, verschwand sie nebenan im Schlafzimmer. »Darf ich ausschalten?«, fragte Blue Gene und zeigte auf den Fernseher.
»Nur zu. Geht’s dir gut?«
»Ja.«
»Du siehst aus, als wäre etwas.«
»Ich bin okay.«
»Willst ’ne Cola oder sonst was?«
»Du hast bestimmt kein Bier, oder?«
»Nein. Ich hatte immer welches im Haus wegen meiner Hiatushernie und weil einer meiner Ärzte sagte, ich solle vor dem Abendessen ein Bier trinken, damit ich nicht
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