Goebel, Joey
wollte die Klimaanlage voll aufdrehen, doch sie arbeitete schon mit Höchstleistung. Dann drehte er die Kantate lauter, lockerte den Schlips und knöpfte das maßgeschneiderte Hemd auf; trotzdem rann ihm der Schweiß weiter den Rücken hinunter. Er würde kurz bei sich zu Hause vorbeifahren und eine Xanax nehmen müssen. Er bemühte sich krampfhaft, tiefe, reinigende Atemzüge zu machen, was zunächst auch funktionierte, bis er sich vorstellte, wie dieser verwahrloste Mann von vorhin jetzt mit bloßen Händen und völlig unbekümmert ein Hühnerbein aß, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, welchen Ärger er verursacht hatte. John kochte vor Wut.
Auch das hasste er am Autofahren: Wenn man einen Menschen in ein Auto setzte, gab man ihm Macht. Masse, Stahl und Kraft stellten ihn mit jedem anderen Automobilisten auf eine Stufe. Dieser Mensch mochte außerhalb seines Autos ein Nichts, ein Niemand sein, doch sobald er von dem vierrädrigen Körperpanzer eines Automobils [64] geschützt wurde, konnte er den starken Mann markieren wie jeder andere auch. Wenn sie doch alle Fußgänger wären!
Die Gegend um Bashford war irgendwann als Mittlerer Westen bekannt geworden, als Herz der Nation, jener Landstrich, der während der westlichen Ausdehnung der USA einmal Grenzland gewesen war, das ehemalige Ende der Neuen Welt, wo sich die weniger vom Glück begünstigten Siedler niederließen, weil alle begehrenswerten Küstenländereien bereits vergeben waren. Ehe die Weißen diese Randgebiete in Beschlag nahmen, schätzten die Indianer das Land als wertvolle Jagd- und Fischgründe (so wie Blue Gene viele Jahre später). Es war so begehrt, dass verfeindete Stämme um die Jagd- und Fischrechte Kriege führten. Der Familiensitz der Mapothers stand auf einer Rodung, wo früher einmal ein umkämpfter Wald gestanden hatte, auf Boden, der einst von Blut getränkt war.
Einen halben Kilometer hinter einem schwarzen Eisentor stand das Herrenhaus in all seiner Erhabenheit einsam auf einem Hügel – weißer Backstein und weiße Säulen. Da es zehn Kilometer außerhalb der Stadtgrenze stand, mussten seine Bewohner sich nicht mit Nachbarn herumärgern; die nächsten Villen waren in Vandalia Hills, einer vornehmen Wohngegend, wo John neben dem Bashford Country Club wohnte. Elizabeth hatte dafür gesorgt, dass das Tor für Blue Gene offen gelassen wurde, dessen Pick-up um 17 Uhr 50 in die lange Auffahrt einbog. Am Ende der Auffahrt stand ein kleiner Junge in Khakishorts und einem hellgelben Polohemd. Er tat, als wäre er ein Schülerlotse, der imaginäre Fahrzeuge an sich vorbeiwinkte, während er mit der anderen Hand ein [65] Haltesignal gab. Als er Blue Genes Pick-up auf sich zufahren sah, gab er ihm das Haltesignal. Blue Gene spielte mit und wartete, bis der Junge ihm gestattete, weiterzufahren und vor der Vierergarage zu halten. Er stieg aus, und der pausbäckige blonde kleine Junge stellte sich vor ihn hin.
»Hey«, sagte Blue Gene.
»Hallo.«
»Wie ist der Verkehr heute?«
»Es hat neun Unfälle gegeben.«
»Das ist schlecht. Du bist bestimmt Arthur, stimmt’s?«
»Ja.«
»Ich bin Blue Gene. Ich bin dein Onkel.«
»Ich weiß. Mom und Dad haben von dir gesprochen.«
»Was haben sie über mich gesagt?«
»Sie haben gesagt, du hättest lange Haare.«
»Sie sind nur hinten lang. Sprechen sie oft von mir?«
»Nein.«
Blue Gene nickte. Weil er nicht länger als nötig drinnen sein wollte, zündete er sich eine Zigarette an und ging auf dem makellosen Rasen vor dem Haus mit den perfekt geschnittenen Büschen auf und ab. Er dachte daran, wieder zu verschwinden, entschied sich aber dagegen, weil sein Vater und John ihn sonst womöglich für einen Feigling halten würden.
Arthur sah Blue Gene eine Weile beim Rauchen zu.
»Irgendwas stimmt nicht mit dir, was?«, sagte er schließlich.
»Wie meinst du das?« Blue Gene stellte sich darauf ein, seine langen Haare oder den großen Schnauzbart erklären zu müssen.
[66] »Warum lachst du gar nicht?«
»Oh. Hm. Weiß auch nicht.«
»Ich hab mal auf dem Tennisplatz eine tote Schlange gefunden, aber sie war gar nicht richtig tot.«
»Aha. Ich hab hier auch schon ein paar Schlangen gesehen. Früher habe ich nämlich hier gewohnt.«
»Hast du gar nicht.«
»Hab ich wohl. Ich hab hier gewohnt, seit ich… Wie alt bist du, fünf?«
»Ja.«
»Also, ich hab hier gewohnt, seit ich so alt war wie du jetzt und bis ich einundzwanzig war.«
»Hast du echt ?«
»Ja. Ich bin der kleine
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