Gödel, Escher, Bach - ein Endloses Geflochtenes Band
Jede Platte enthält einen der beiden Bände des Wohltemperierten Klaviers; das heißt, jede Platte enthält 24 Präludien und Fugen, in jeder Dur- und Moll-Tonart eine.
Krebs: Ich muß diese beiden unbezahlbaren Platten sofort spielen. Und wie kann ich Ihnen beiden danken?
Schildkröte: Sie haben uns bereits reichlich gedankt mit dem herrlichen Tee, den Sie uns zubereitet haben.
(Der Krebs nimmt eine der Platten aus der Hülle und legt sie auf. Der Klang eines unglaublich souveränen Cembalo-Spiels erfüllt das Zimmer in der höchsten denkbaren Wiedergabetreue. Man hört sogar — oder ist das nur eine Einbildung? — bei seinem Spiel den leisen Klang von Bachs Gesang für sich selbst ...)
Krebs: Möchte jemand von Ihnen die Partitur? Ich besitze eine einzigartige Ausgabe des Wohltemperierten Klaviers, die speziell von einem meiner Lehrer illuminiert worden ist, der auch ein ungewöhnlich begabter Kalligraph ist.
Schildkröte: Das würde macht außerordentlich freuen!
(Der Krebs begibt sich zu einem eleganten, verglasten Bücherschrank, öffnet die Türen und entnimmt zwei Bände.)
Krebs: Bitte sehr, Herr Schildkröte. Ich habe die herrlichen Illustrationen in diesen Bänden noch nie richtig angeschaut. Vielleicht gibt mir Ihr Geschenk den Anstoß dazu.
Schildkröte: Ich hoffe es.
Ameisenbär: Haben Sie jemals darauf geachtet, wie in diesen Stücken das Präludium immer die Stimmung der darauf folgenden Fuge festlegt?
Krebs: Ja. Wenn es auch schwierig sein mag, das in Worte zu fassen, so besteht doch immer eine subtile Beziehung zwischen beiden. Selbst wo Präludium und Fuge nicht das gleiche melodische Thema haben, so gibt es doch immer eine unfaßbare, abstrakte Eigenschaft, die beiden zugrundeliegt und sie sehr eng miteinander verknüpft.
Schildkröte: Und diese paar Augenblicke stiller Spannung zwischen Präludium und Fuge haben etwas sehr dramatisches — jener Moment, wenn das Thema der Fuge in einzelnen Tönen zu erklingen beginnt und dann mit sich selbst auf Stufen wachsender Komplexität unheimliche, erlesene Harmonien hervorbringt.
Achilles: Ich weiß genau, was Sie meinen. Es gibt viele Präludien und Fugen, die ich noch nicht kenne, und für mich ist dieses flüchtige Zwischenspiel von Schweigen sehr aufregend: Es ist der Moment, in dem ich versuche, dem alten Bach auf die Schliche zu kommen. Zum Beispiel bin ich immer darauf gespannt, was das Tempo der Fuge sein wird: allegro oder adagio? Wird es 6/8 sein, oder 4/4? Wird das Stück drei Stimmen haben? Oder fünf? Oder vier? Und dann setzt die erste Stimme ein ... Ein exquisiter Augenblick.
Krebs: Ach ja, ich erinnere mich gut jener längst entschwundenen Jugendjahre, der Tage, da mich jedes Präludium, jede Fuge entzückte, erfüllt von Begeisterung über ihre Neuartigkeit und Schönheit und die unerwarteten Überraschungen, die sie in sich bargen.
Achilles: Und jetzt? Ist diese Begeisterung ganz verflogen?
Krebs: An ihre Stelle ist Vertrautheit getreten, wie das bei Begeisterung immer der Fall zu sein pflegt. Aber in dieser Vertrautheit gibt es auch eine Art Tiefe, die ihre eigene Belohnung hat. Zum Beispiel fand ich, daß es immer neue Überraschungen gibt, die ich bisher nicht bemerkt hatte.
Achilles: Das Auftreten des Themas, wo Sie es übersehen hatten?
Krebs: Vielleicht. Besonders wenn es umgekehrt und durch verschiedene andere Stimmen versteckt ist, oder wo es anscheinend urplötzlich aus der Tiefe herausbricht. Es gibt aber auch erstaunliche Modulationen, denen man immer und immer wieder zuhören kann — staunend, wie der alte Bach auf sie verfiel.
Achilles: Es freut mich sehr zu hören, daß man noch etwas erwarten kann, sobald ich die erste Glut der Verliebtheit ins Wohltemperierte Klavier hinter mir habe — so traurig es mich stimmt, daß dieser Zustand wohl nicht in alle Ewigkeit andauern kann.
Krebs: Sie brauchen nicht zu befürchten, daß Ihre Verliebtheit sich vollständig verlieren wird. Zu den schönen Dingen in diesem Leben gehört ja, daß die jugendliche Begeisterung stets wiederbelebt werden kann, gerade wenn man glaubt, sie sei endgültig tot. Es bedarf nur des richtigen Auslösers von außen.
Achilles: Wirklich? Was zum Beispiel?
Krebs: Zum Beispiel, daß man es sozusagen mit den Ohren von jemand hört, für den es ein ganz neues Erlebnis ist, wie zum Beispiel für Sie Achilles. Irgendwie überträgt sich die Erregung, und ich kann mich wieder begeistern.
Achilles: Das ist merkwürdig. Irgendwo in Ihrem
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