Gödel, Escher, Bach - ein Endloses Geflochtenes Band
reinste Zweig der Mathematik — der einzige Zweig der Mathematik, der KEINE praktische Anwendung findet.
Schildkröte: Sie sind nicht der einzige, der das glaubt, aber in Wirklichkeit ist es ganz unmöglich, eine allgemeine Aussage darüber zu machen, wann oder wie ein Zweig, oder sogar ein einzelner Satz der reinen Mathematik, wichtige Rückwirkungen außerhalb der Mathematik hat. Das läßt sich überhaupt nicht voraussagen — und dieser Fall ist ein vollkommenes Beispiel für dieses Phänomen.
Achilles: Das doppelte Ergebnis von Herrn Schildkröte hat auf dem Feld der Akusto-Abrufe einen Durchbruch mit sich gebracht!
Ameisenbär: Was sind Akusto-Abrufe?
Achilles: Der Name sagt schon alles: Es handelt sich um die Abrufung akustischer Information aus äußerst komplexen Quellen. Eine typische Aufgabe wäre die, das Geräusch, das ein Stein macht, wenn er in einen See fällt, aus den Wellen zu rekonstruieren, die sich auf der Oberfläche des Sees ausbreiten.
Krebs: Das klingt doch fast unmöglich!
Achilles: Keineswegs. In Wirklichkeit ist es ganz ähnlich dem, was das Gehirn tut, wenn es einen durch die Stimmbänder einer anderen Person hervorgerufenen Ton aufgrund der durch das Trommelfell an die Härchen der Schnecke weitergeleiteten Schwingungen rekonstruiert.
Krebs: Verstehe. Aber ich sehe noch immer nicht, was die Zahlentheorie damit zu schaffen hat, oder was das alles mit meinen Platten zu tun hat.
Achilles: Nun, in der Mathematik des Akusto-Abrufs stellen sich viele Fragen, die mit der Anzahl der Lösungen gewisser diophantischer Gleichungen zu tun haben. Nun hat Herr S. seit Jahrzehnten versucht, eine Methode zu finden, die Töne, die Bach vor zweihundert Jahren auf seinem Cembalo spielte, vermittels Berechnungen zu rekonstruieren, die alle Bewegungen aller Moleküle in der Atmosphäre an jenem bestimmten Zeitpunkt berücksichtigen.
Ameisenbär: Das ist sicher unmöglich. Sie sind unabrufbar verschwunden, verschwunden auf immerdar.
Achilles: Das glauben die Naiven ... Aber Herr S. hat viele Jahre auf das Problem verwendet, und er kam zu der Einsicht, daß das Ganze nur noch von der Anzahl der Lösungen für die Gleichung
a n + b n = c n
in positiven ganzen Zahlen mit n > 2 abhängt.
Schildkröte: Ich könnte natürlich erklären, wie es zu dieser Gleichung kommt, aber das würde Sie sicher langweilen.
Achilles: Es stellt sich heraus, daß die Akusto-Abruf-Theorie voraussagt, daß die Töne Bachs aus der Bewegung aller Moleküle in der Atmosphäre gewonnen werden können, vorausgesetzt daß ENTWEDER zumindest eine Lösung der Gleichung ...
Krebs: Erstaunlich!
Ameisenbär: Phantastisch!
Schildkröte: Wer hätte das gedacht?
Achilles: Ich wollte gerade sagen, „vorausgesetzt, daß ENTWEDER eine solche Lösung besteht, ODER ein Beweis, daß es KEINE Lösungen gibt!“ Und deshalb begann Herr S. vorsichtig gleichzeitig an beiden Enden des Problems zu arbeiten. Wie sich herausstellte, war die Entdeckung des Gegenbeispiels der Schlüssel für die Entdeckung des Beweises. So leitet das eine unmittelbar zum anderen über.
Krebs: Wie war das möglich?
Schildkröte: Nun, wie sie sahen, hatte ich gezeigt, daß der Strukturplan eines Beweises für Fermats Letzten Satz — wenn es einen Beweis gibt —, mit einer eleganten Formel beschrieben werden kann, die, wie es sich so ergab, auf den Werten einer gewissen Gleichung beruhte. Als ich diese zweite Gleichung fand, stellte sich zu meiner Überraschung heraus, daß es die Fermat-Gleichung war. Eine amüsante zufällige Beziehung zwischen Form und Gehalt. Nachdem ich also das Gegenbeispiel gefunden hatte, brauchte ich diese Zahlen nur noch als Blaupausen für die Konstruktion meines Beweises zu verwenden, daß die Gleichung keine Lösungen besaß. Bemerkenswert einfach, wenn man nachher hinschaut. Ich kann mir nicht vorstellen, warum niemand schon früher auf diese Ergebnisse gestoßen war.
Achilles: Als Ergebnis dieses unerwartet reichen mathematischen Erfolgs vermochte Herr S. den Akusto-Abruf durchzuführen, von dem er so lange geträumt hatte. Und das Geschenk von Herrn Krebs stellt eine greifbare Verwirklichung all seiner abstrakten Arbeit dar.
Krebs: Sagen Sie mir nur nicht, daß es eine Aufnahme von Bachs Spiel seiner eigenen Cembalo-Stücke ist!
Achilles: Tut mir leid, aber ich muß das sagen, denn gerade das ist es! Dies ist der einzige Satz von zwei Platten, auf denen Johann Sebastian Bach sein gesamtes Wohltemperiertes Klavier spielt.
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